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Beitrag 5

Wolfram von Eschenbach ‚Willehalm‘ — Gyburg, die Protagonistin, eine Frau mit vielen Facetten

Helmut Beifuss

Der folgende Beitrag widmet sich einer der bedeutendsten Frauengestalten (aus Sicht des Verfassers der bedeutendsten Frauengestalt) der deutschen Literatur des Mittelalters. Es handelt sich um die im Titel des Beitrags genannte Gyburg. Bevor auf sie eingegangen wird, gilt es einige allgemeine Aspekte zu behandeln, um das, worum es im Kern gehen soll, nachvollziehbar zu machen. Zunächst sollen der Autor des Werkes, der sich durch als Stilisierungen zu bezeichnende Aussagen über sich selbst fast zu einer literarischen Figur macht, und sein literarisches Schaffen in groben Zügen vorgestellt werden. Es folgt eine Skizzierung des Inhalts des ,Willehalmʻ, die schon auf Besonderheiten in der Gestaltung der Protagonistin hinweisen wird, danach rücken zwei Textpassagen, die eingehender analysiert werden sollen, in den Fokus: das Religionsgespräch und die sogenannte Toleranzrede Gyburgs, die, wie angedeutet, ohne zumindest rudimentäre Kenntnisse der vorangehenden Gesichtspunkte unverständlich bleiben würden. Diese Ausführungen münden in einem Fazit, das Gyburg als Akteurin des Werkes und ihre Bedeutung für das Werkganze skizzieren soll. Das Motto der Vorlesungsreihe aufgreifend wird es abschließend in einem Exkurs kurz um den Aspekt der Textdynamik gehen.

Die Textzitate sind den im Literaturverzeichnis angeführten Ausgaben entnommen. Zu den Textstellenangaben sei vorab angemerkt, dass die Ausgaben des ,Willehalmʻ ebenso wie die des ,Parzival‘, der beiden Werke Wolframs aus denen Zitate vorkommen werden, in 30er Abschnitte gegliedert sind, deren Verse gezählt werden. Es erscheint deshalb vor dem Komma der Stellenangabe eine Zahl, die sich auf den 30er Abschnitt bezieht, danach folgt eine, die die Verse des angegebenen 30er Abschnitts bezeichnet. In den Ausgaben findet sich darüber hinaus eine Gliederung in Bücher, die allerdings für die Stellenangabe keine Rolle spielt, die Erwähnung dient lediglich der Vervollständigung und zielt auf diejenigen ab, die in den angegebenen Ausgaben nachschlagen. Ob die beschriebene Unterteilung der Werke tatsächlich auf Wolfram zurückgeht, ist strittig und kann kaum mit Sicherheit geklärt werden.

Für die nachfolgenden Ausführungen grundlegend wichtige Literatur wird im Literaturverzeichnis angegeben. Das primäre Ziel der folgenden Darlegungen wird nicht sein, verschiedene Forschungsmeinungen darzustellen und einander unmittelbar gegenüberzustellen, vielmehr geht es um den Versuch, aus Gelesenem und eigenen Gedanken einen Text zu verfassen, dessen Inhalt sich nachvollziehbar und schlüssig mit nicht eben einfachen Textstellen auseinandersetzt, diese analysiert und, wie es bereits ausgeführt wurde, in einem Fazit Schlüsse und Ergebnisse zusammenfasst. Das bedeutet für die Vorgehensweise, dass es keine wörtlichen Zitate geben und der fortlaufende Text, fast daraus resultierend, nicht durch Hinweise auf Forschungsliteratur unterbrochen wird. Ein weiterer Grund, der für die beschriebene Vorgehensweise sprach, ist in der Absicht zu sehen, möglichst textnah zu arbeiten und die eingehender analysierten Textstellen für sich sprechen zu lassen. Das soeben Dargelegte bedeutet aber nicht, dass auf der Suche nach der plausibelsten Interpretation nicht doch Forschungstendenzen angesprochen und gegeneinander abgewogen werden. Darüber hinaus sollte der Charakter des mündlichen Vortrages erhalten bleiben, auf den die nachfolgenden Ausführungen zurückgehen. Hintergrund ist eine Vorlesungsreihe, die im Rahmen der Institutspartnerschaft zwischen der Universität Krakau und Leipzig stattfand. Der beträchtliche Umfang entspricht, dies dürfte klar sein, nicht dem Vortragsumfang, sondern resultiert daraus, dass versucht wurde, die lebhafte Diskussion und die Antworten auf die anregenden Fragen bei der Ausarbeitung zu berücksichtigen.

Die Übersetzungen der zitierten mittelhochdeutschen Textstellen sind alle den im Literaturverzeichnis angeführten Ausgaben entnommen. Besonders im Hinblick auf den ,Willehalmʻ ist darauf hinzuweisen, dass dies geschieht, obwohl die Übertragungen sich teilweise vom Wortlaut des Mittelhochdeutschen doch deutlich abheben. Die Vorgehensweise wurde gewählt, um Konfusionen bei denjenigen zu vermeiden, die in der Ausgabe die Textstellen nachlesen und den Text dort weiter konsultieren.

Wolfram von Eschenbach – Anmerkungen zu Dichter und Werk

Wolfram von Eschenbach zählt zu den großen Autoren der Zeit um 1200, zusammen mit Hartmann von Aue und Gottfried von Straßburg zählen er und seine Werke zur oft so genannten höfischen Klassik. Wie bei anderen Dichtern der Zeit ist unser Wissen im Hinblick auf die Biografie und die Lebensumstände sehr begrenzt. Mit mehr oder minder großer Plausibilität lassen sich Daten zu ihrem Leben und ihren Aufenthaltsorten erschließen, dabei werden, in Ermangelung urkundlicher Quellen zu den Dichtern, Aussagen der Dichter über sich selbst, ihre Auftraggeber, Erwähnungen bei anderen Autoren und Hinweise auf historisch nachweisbare Personen und/oder Ereignisse, die in den Werken Erwähnung finden, zu Grunde gelegt. Auf die Aussagen Wolframs zu seiner Person und seinen Lebensverhältnissen wird später zurückzukommen sein. Auf der Basis der soeben angeführten Möglichkeiten ist von einer Lebenszeit von circa 1170/1180 bis 1220/1230 auszugehen. Seit 1917 gibt es im Fränkischen in der Nähe von Ansbach einen Ort, der sich Wolframs-Eschenbach nennen darf. Es existieren deutliche Beziehungen zu der Gegend, in der der Ort liegt, aber es kann keinesfalls als bewiesen gelten, dass Wolfram tatsächlich in dem Ort geboren wurde, der sich heute nach ihm benennt. Wolfram muss sich über einen längeren Zeitraum im Umfeld des Landgrafen Hermann von Thüringen aufgehalten haben. Der Landgraf war der wichtigste Mäzen Wolframs, er hat Wolfram bei der Vollendung des ,Parzivalʻ unterstützt und war, wie im Werk dargelegt wird, der Auftraggeber des ,Willehalmʻ. Ein Aspekt der im Folgenden noch eine Rolle spielen wird.

Wolfram erlebte die Thronstreitigkeiten im Deutschen Reich um die Wende vom 12. zum 13. Jahrhundert und deren Folgen gewissermaßen hautnah, was aus seinem ersten überlieferten epischen Werk, dem bereits erwähnten ,Parzivalʻ, geschlossen werden kann. Für den ,Willehalmʻ wichtig erscheint jedoch die Regentschaft von Kaiser Friedrich II., der nicht nur als überaus gelehrt zu gelten hat, sondern auch als tolerant in Glaubensfragen. Immerhin umgab er sich mit zahlreichen muslimischen Gelehrten, was nicht unerhebliche Folgen für die Entwicklung des westeuropäischen Geisteslebens zeitigte. Ein Schlaglicht auf Friedrichs II. Haltung wirft auch der von ihm offensichtlich nur widerwillig unternommene Kreuzzug. Friedrich II. brach erst 1228 – nach päpstlicher Auffassung viel zu spät – zu seinem Kreuzzug auf. Friedrich II. brach erst 1228 – nach päpstlicher Auffassung viel zu spät – zu seinem Kreuzzug auf. Wegen des angedeuteten Hinauszögerns wurde Friedrich II. exkommuniziert, dennoch zog er ins Heilige Land und eroberte Jerusalem ohne Blutvergießen durch Diplomatie. Hilfreich war dabei sicher, dass Friedrich II. arabisch sprach. Der Hinweis auf dessen Kreuzzug dient der Betonung von Friedrichs II. Haltung, die Fahrt ins Heilige Land kann aber ebenso wenig wie das Faktum, dass Friedrich II. Jerusalem friedlich eroberte auf Wolfram und sein Werk einen Einfluss ausgeübt haben, denn als das geschah, war Wolfram sehr wahrscheinlich nicht mehr am Leben, in jedem Fall aber war seine Arbeit am ,Willehalmʻ längst beendet. Die mit diesen Anmerkungen implizit verbundene These, dass die Politik Friedrichs II. und seine Haltung zu Muslimen für Wolfram eine Rolle gespielt haben kann, lässt sich allerdings durch den Hinweis darauf untermauern, dass Ludwig IV., der Sohn des als Wolframs Mäzen erwähnten Landgrafen Hermann von Thüringen, als Parteigänger Friedrichs II. einzustufen ist, eine Haltung, die mit der des Vaters konform ging. Dieser Aspekt wird später aufgegriffen werden.

Wolfram ist, das werden die folgenden Anmerkungen dokumentieren, sicher der eigenwilligste Dichter seiner Zeit, das wird nicht nur durch sein literarisches Schaffen deutlich, sondern auch durch die in diesem anzutreffenden Aussagen über sich selbst, die in der Form für einen Dichter dieser Zeit einzigartig sind. Es handelt sich, wie schon angesprochen, um eine Selbststilisierung, die von einem enormen Autorenbewusstsein zeugt. Gleichermaßen handelt es sich um ein Verwirrspiel, denn das, was Wolfram über sich selbst sagt, ist widersprüchlich. Er bezeichnet sich einerseits als Ritter und verhöhnt den Beruf des Dichters, andererseits beschreibt er sich als einen in bitterster Armut lebenden Menschen. Im vorliegenden Zusammenhang wichtiger sind Wolframs Aussagen seine Bildung betreffend. Zwei Zitate seien an dieser Stelle eingefügt, da es in diesem Beitrag um den ,Willehalmʻ (bei Textzitaten abgekürzt W) geht, zunächst und entgegen der Chronologie der Werke, ein Zitat aus dem genannten Werk:

swaz an den buochen stât geschriben

des bin ich künstelôs beliben

niht anders ich gelêret bin:

wan hân ich kunst die gît mir sin.
(W 2,19–22)

,Aus den Büchern

hab ich nichts, kein Wissen und kein Können.

Nicht anders bin ich unterwiesen:

was ich weiß und was ich kann, das kommt

mir aus der Einsicht.ʻ

Im Grunde noch rigoroser äußert sich Wolfram im ,Parzivalʻ. In diesem Werk behauptet Wolfram, wenn das Geschriebene wörtlich genommen wird, dass er weder lesen noch schreiben kann, und – paraphrasiert – weiter: dass seine Geschichte, im Gegensatz zu den Erzählungen anderer, ohne Buchgelehrsamkeit auskommt (,Parzivalʻ, 115,27–30). Diese Textstelle regte eine lange und intensive Diskussion an, die im Grunde nicht wirklich zu einer einheitlichen Auffassung führte. Es darf aber wohl kaum angenommen werden, dass Wolfram tatsächlich, wie er es behauptet, Analphabet war. Wolfram will sich durch seine Aussagen gegen die Dichter, die eher stolz auf ihre Bildung sind und auf diese in ihrem Werk hinweisen, wie etwa Hartmann von Aue, abgrenzen.

Es kann, das wird später anhand der beiden Textstellen, die näher betrachtet werden sollen, eindeutig zu beobachten sein, von einer guten Bildung ausgegangen werden. Ausgeprägte Kenntnisse lassen sich aber auch anderweitig im literarischen Schaffen Wolframs deutlich erkennen. Es können als Beispiele für Wissensgebiete, in denen Wolfram durchaus Kenntnisse aufweist, genannt werden: Medizin, Geographie, Astrologie/Astronomie (eine Unterscheidung gab es zu Lebzeiten Wolframs nicht), Französischkenntnisse (hier ist strittig, wie gut diese waren). Darüber hinaus sind weitreichende Kenntnisse im Bereich der Literatur teilweise direkt nachweisbar, teilweise eher implizit bemerkbar. Wolfram kennt Werke unterschiedlicher Gattungszuordnungen, gleichzeitig beeinflusst er auch Werke unterschiedlicher Gattungen bzw. deren Verfasser. Das überschwänglichste Lob wird Wolfram durch Wirnt von Grafenberg, dem Verfasser des ,Wigaloisʻ, zuteil, leien munt nie baz gesprach ,nie hat ein Laie besser erzähltʻ (,Wigaloisʻ, V 6346).

Das Werk keines mittelalterlichen Dichters ist so breit überliefert worden wie das Wolframs. Seine Werke wurden circa 300 Jahre abgeschrieben, dabei auch illustriert und, im Falle des ,Parzivalʻ, sogar gedruckt. Der ,Jüngere Titurelʻ, dazu später etwas mehr, wurde im 15. Jahrhundert, weil er ab ungefähr 1300 fälschlicherweise als eine Dichtung Wolframs galt, sogar als das bedeutendste Werk deutscher Dichtung betrachtet. Wolfram wird darüber hinaus als Sänger des fiktionalen Sängerkrieges auf der Wartburg genannt, und die Meistersinger erklären ihn zu einem ihrer Meister.

Der Hinweis auf Wolfram als Sänger soll zu einem kurz gefassten Werküberblick genutzt werden. Wolfram darf als Wegbereiter einer besonderen Liedgattung im deutschen Minnesang bezeichnet werden. Er verhalf dem Tagelied zumindest zum Durchbruch, die Liedgattung wurde zu einer der beliebtesten im 13. Jahrhundert. Wolfram hat damit auch eine deutliche, unmittelbar dargestellte, sexuelle Komponente in den deutschen Minnesang gebracht.

Mit seinem ersten und gleichzeitig einzig vollendeten epischen Werk, dem ,Parzivalʻ bringt Wolfram den Gralsmythos in die deutschsprachige Literatur. Das Werk wird zwar oft in die Gattung Artusroman integriert, es beinhaltet aber weit mehr, als es von den Artusromanen zu erwarten ist. Es hat sich deshalb auch die Bezeichnung Doppelroman eingebürgert. Das Werk vereint zwei unterschiedliche Motivkomplexe (den Artusstoff und den Gralsmythos) und verbindet – sehr grob gesprochen – mit jedem der Motive einen Protagonisten. Das gilt, obwohl sich durch Parzival auch eine unmittelbare Verbindung ergibt, da er von seiner Genealogie her gesehen der Artussippe und der Gralssippe zugehört. Die Protagonisten treten abwechselnd in den Vordergrund, wobei durch Querverweise dafür Sorge getragen wird, dass der jeweils andere in Erinnerung bleibt. Die Entstehungsgeschichte des Werkes wirft bis heute nicht endgültig beantwortete Fragen auf, vollendet wurde es im ersten Jahrzehnt des 13. Jahrhunderts am Hof des bereits genannten Landgrafen Hermann von Thüringen. Es würde, wenn es so etwas wie eine Bestsellerliste gäbe, auf Rang eins oder zwei anzusiedeln sein, wobei der Konkurrent um Platz eins das Werk ist, dem gleich mehr Aufmerksamkeit zuteilwerden soll. Der ,Parzivalʻ ist, wie viele andere deutsche Werke dieser Zeit auch, auf der Grundlage einer französischen Vorlage entstanden, wobei Wolfram, was für seine Zeit ungewöhnlich ist, eine deutliche Distanz zu dieser zum Ausdruck bringt.

Die angesprochenen ,Titurelʻ-Fragmente lassen sich nicht genauer datieren, wenn davon abgesehen wird, dass sie nach dem ,Parzivalʻ entstanden sind. Aus den Fragmenten ergibt sich immerhin, dass Wolfram sich auch hier mit der Gralsippe beschäftigte, möglicherweise war es der Plan, eine Art Genealogie dieser Sippe zu verfassen, und dass der Inhalt der Fragmente mit dem Inhalt des ,Parzivalʻ verwoben ist. Das Innovative liegt besonders in der Form. Wolfram verwendet die Strophe als formale Einheit und als deren Elemente die Langzeile. Beides wird sonst in der höfischen Epik nicht verwendet, beide Grundkomponenten sind aber bekannt aus der germanischen Heldendichtung. Warum Wolfram diese Form aufgriff, bleibt sein Geheimnis. Es lässt sich allerdings belegen, dass Wolfram zumindest das ,Nibelungenliedʻ, einen zentralen Vertreter der genannten Gattung, kannte. Die ,Titurelʻ-Fragmente wurden später, wie implizit bereits gesagt, aufgegriffen und es entstand ein Werk von circa 6500 Strophen, das auf einen Albrecht (von Scharfenberg) zurückgeht, aber – wie ebenfalls schon angedeutet – bald für ein Werk Wolframs gehalten wurde.

Zu erwähnen bleibt noch der ,Willehalmʻ, das Werk, das im Zentrum des Interesses steht. Das Werk ist sicher nach dem ,Parzivalʻ entstanden, denn Wolfram beschwert sich im ,Willehalmʻ darüber, dass sein Erstlingswerk nicht überall positiv aufgenommen wurde. Der ,Willehalmʻ blieb unvollendet. Die Ursache dafür ist, so eine These, die den meisten Zuspruch fand, darin zu sehen, dass der im Werk erwähnte Auftraggeber und Mäzen Wolframs starb. Es handelt sich um Hermann von Thüringen, der 1217 gestorben ist. Der Versuch einer Datierung in die zwanziger Jahre ist eher spekulativ, denn eine Förderung des Autors durch Hermanns Nachfolger Ludwig IV. und dessen Ehefrau Elisabeth erscheint unwahrscheinlich. Es ist demnach davon auszugehen, dass Wolfram seine Arbeit am Werk 1217 bzw. bald danach eingestellt hat. Eine andere Annahme geht davon aus, dass Wolfram selbst starb und deshalb sein Werk nicht vollenden konnte. Für die Datierung bedeutet das nach dem bisher Gesagten, dass Wolfram die Arbeit an seinem Werk wohl gegen Ende des zweiten Jahrzehnts des 13. Jahrhunderts einstellte. Eine Entscheidung, welche der angesprochenen Annahmen die richtige ist, kann nicht getroffen werden. Wolfram arbeitete auch bei diesem Werk nach einer französischen Vorlage, der ,Aliscansʻ aus dem Epenzyklus um Guillaume d´Orange. Auch mit dem ,Willehalmʻ geht Wolfram neue Wege und fand darin bald Nachfolger: In einer Zeit, in der der höfische Roman eine Blüte erlebte, wendet sich Wolfram von den höfischen Stoffen ab und greift einen Stoff der französischen Heldenepik auf.

Das bedeutet für die damaligen Rezipienten eine Hinwendung zur Geschichte, denn als historisches Geschehen wurden die im Rahmen der Chanson de geste erzählten Ereignisse aufgefasst. Als Chanson de geste wird die französischen Heldendichtung bezeichnet. In der Forschung wurde diese Hinwendung zur Geschichte als Wagnis bezeichnet. Ob diese Wende im literarischen Schaffen eine von Wolfram gewollte ist, oder ob sie auf den Mäzen zurückgeht, kann und soll hier nicht thematisiert werden, eine Antwort auf diese Frage könnte ohnedies nur den Anspruch erheben, spekulativ zu sein. Der ,Willehalmʻ gehört jedenfalls, wie schon gesagt, neben dem ,Parzivalʻ zu den am meisten überlieferten, literarischen Werken des Mittelalters, und er ist, auch darauf gilt es als Besonderheit hinzuweisen, dasjenige, das am häufigsten illustriert, das heißt mit bildlichen Darstellungen versehen wurde. Offenkundig hat Wolfram den literarischen Geschmack seiner Zeit getroffen, denn das Interesse war so groß, dass der Text nicht einfach abgeschrieben wurde, er wurde, wie gesagt, auch häufig illustriert, was die Kosten und den Wert der Handschriften enorm steigerte. Zu betonen ist außerdem, dass Wolframs Text das Mittelstück eines Zyklusses bildet, denn es entstand eine Vorgeschichte und das fehlende Ende wurde ergänzt.

Durch den angekündigten Exkurs zum Aspekt Textdynamik am Ende des Beitrags werden die jetzt eher ekklektisch oder gar kryptisch erscheinenden Hinweise zur Überlieferung aufgegriffen und etwas genauer erläutert werden.

Der ‚Willehalm‘ — Skizzierung des Inhalts

Der ,Willehalmʻ beginnt mit einem umfangreichen Prolog (W 1,1–5,15), der, wie vieles Andere auch, eine Zutat von Wolfram ist, also ohne Vorbild in der Vorlage von Wolfram verfasst wurde. Dieser Prolog ist geprägt von religiösen Motiven, er beginnt mit einem Gebet, er hat auch weithin einen gebetsartigen Charakter. Auf den Prolog kann nicht näher eingegangen werden, denn eine Beschäftigung damit würde von der gewählten Thematik zu weit abführen und durch seine Komplexität einen breiten Raum einnehmen. Es sollte aber erwähnt werden, dass Aspekte, die bereits im Prolog thematisiert werden, auch im Religionsgespräch zwischen Gyburg und ihrem Vater Terramer sowie in ihrer Rede im Fürstenrat, also den beiden Teilen des Werkes, die später in dieser Abhandlung intensiv behandelt werden, eine Rolle spielen. Der Prolog ist aber nicht nur mit dem Religionsgespräch und der Rede im Fürstenrat verzahnt, er verweist geradezu programmatisch auf im Textverlauf wiederkehrende Motive. Er entwickelt darüber hinaus sogar eine eigene Überlieferungsgeschichte, auf die im Exkurs zumindest kurz hingewiesen werden wird.

Im Anschluss an den Prolog wird berichtet, dass Willehalm – wie seine neun Brüder – von seinem Vater enterbt wurde, zu Gunsten von dessen Patenkind. Dies führt dazu, dass Willehalm sich nicht nur Ruhm und Ehre, sondern auch Besitz erstreiten muss. Dabei gerät er in heidnische Gefangenschaft und lernt Arabel kennen, die mit ihm flieht, zum Christentum konvertiert, sich auf den Namen Gyburg taufen lässt und Willehalm heiratet, obwohl sie in ihrer heidnischen Heimat bereits verheiratet ist. Damit ist die ursprüngliche Ursache der kriegerischen Auseinandersetzungen, mit denen das Werk beginnt, erwähnt, denn Arabel lässt ihren Ehemann, Tybalt, und, wie im Verlauf des Werkes bekannt wird, Kinder zurück, von denen Ehmereiz, ein Sohn, im Werk als Kämpfer gegen Willehalm in Erscheinung tritt. Tybalt verfolgt das Paar, unterstützt von seinem Schwiegervater Terramer, dem obersten Herrscher der Heiden. Es geht am Anfang also eher um einen privaten Konflikt. Ein verlassener Ehemann will seine Ehefrau zurückholen, wobei auch Herrschaftsansprüche eine Rolle spielen, die jedoch familienintern angesiedelt sind. Anzumerken ist, dass der Erzähler den Rezipienten eigentlich für das Verständnis wichtige Informationen vorenthält, die später nach und nach mitgeteilt werden.

Noch in die Beschreibung der Heere, die sich gegenüberstehen, fällt ein Erzählerexkurs, der Gyburgs Rolle thematisiert. Schon mit dem Hinweis darauf, dass sie die Frau mit den zwei Namen ist, weist der Erzähler auf die unterschiedlichen Perspektiven hin, aus denen die Gestalt zu bewerten ist. Dementsprechend sind auch die Beurteilungen verschieden. Gyburg wird im Verlauf des angesprochenen Erzählerexkurses zunächst für das große Sterben der Christen und den Tod vieler ihrer heidnischen Verwandten verantwortlich gemacht. Doch dann vollzieht der Erzähler eine radikale Wende. Schuldlos sei Gyburg, wird nun behauptet, Grundlage für diese Feststellung ist, dass Gyburgs Tun aus der Liebe zum christlichen Gott resultiert. Die positive Bewertung hat als Grundlage also den Glauben, den religiösen Aspekt von Gyburgs Handlungsweise, der höher zu veranschlagen ist, als die zuvor geäußerte eher profan weltlich orientierte Schuldzuweisung bzw. Orientierung. Dies macht der Erzähler seinen Rezipienten unmissverständlich klar. Er überlässt es also nicht seinen Rezipienten, die Gestalt zu beurteilen, er nimmt ihnen die Entscheidung ab.

Das Heer der Heiden ist zahlenmäßig weit überlegen. Dennoch gelingt es dem christlichen Heer, den Kampf offen zu gestalten, bis Terramer mit seinen Truppen in den Kampf eingreift. Das christliche Heer wird nun aufgerieben. Vivianz, der Neffe und Ziehsohn von Gyburg und Willehalm, wird nach heroischem Widerstand tödlich verletzt. Willehalm findet den im Sterben Liegenden und möchte die Leiche von Vivianz mit in seine Burg nehmen, was ihm jedoch verwehrt bleibt. Der Tod von Vivianz hat für den Handlungsfortgang eine große Bedeutung. Willehalm kann sich schließlich allein nach Oransche, seine Burg, durchschlagen, wo Gyburg auf ihn wartet. Nachdem Willehalm in Oransche eingelassen wurde, erweist sich Gyburg nicht nur als treue, sondern auch als liebende – auch im geschlechtlichen Sinn – Ehefrau. Die beiden begegnen sich, was für die damalige Zeit außergewöhnlich ist, auf Augenhöhe, sie beraten sich und fällen einen Entschluss. Die Verbindung von wahrer Liebe und Ehe betont Wolfram schon in seinem ,Parzivalʻ, es handelt sich bei der Darstellung also um ein werkübergreifendes Motiv bei Wolfram.

Willehalm will sich nach Munleun durchschlagen, wo sich der französische König aufhält. Er möchte mit dessen Hilfe ein neues Heer zusammenstellen, um wieder gegen die Heiden kämpfen zu können. Gyburg soll in der Zwischenzeit die Burg gegen die heidnischen Angriffe verteidigen. Sie und die höfischen Damen tragen nun Rüstungen, sie werden zu Kämpferinnen. Dies klingt sehr außergewöhnlich, aber es ist verbürgt, dass Frauen an den Kreuzzügen im 12. Jahrhundert auch als Kämpferinnen teilgenommen haben. Ungeachtet dessen dürfte es den Rezipienten als etwas Besonderes aufgefallen sein, dass Gyburg und die höfischen Damen ein heidnisches Heer, das die Burg belagert und immer wieder angreift, in Schach gehalten haben. Die wenigen männlichen Mitstreiter verschwinden demgegenüber im Hintergrund. Gyburg erweist sich bei der Verteidigung der Burg als überaus klug. So stellt sie etwa tote Ritter in ihren Rüstungen auf die Zinnen, um eine größere Besatzung der Burg vorzutäuschen. Der Erzähler fühlt sich bemüßigt, zu erklären, warum Gyburg die heidnischen Angriffe abwehren kann. Er erläutert, dass es beim Abschied von Willehalm zu einem Herzenstausch kam, sie behielt seines in Oransche, er zog mit ihrem nach Munleun (W 109,8–14). Außerdem wird später darauf hingewiesen, dass Gyburg schon oft Waffen getragen habe (W 215, 6–7).

Wir können für Gyburg als kleines Zwischenfazit festhalten: Sie hat, wie sie später immer wieder betonen wird, für Gott, aber auch für Willehalm, ihren Ehemann verlassen und sich taufen lassen, sie ist also getaufte Heidin, Ehefrau des Markgrafen Willehalm und dessen Partnerin auf Augenhöhe, ihre Liebe wird auch in deren erotischer Komponente in den Fokus gerückt. Willehalm berät sich mit ihr, sie ist die Ziehmutter von Vivianz, dessen Tod sie fast über die Maßen betrauert, was später noch deutlicher wird, als es dies bisher wurde.

Willehalm macht sich auf den Weg, um Hilfe zu gewinnen. Auf seinem Zug, auch dies ein Zeichen der innigen Verbindung des Paares, verzichtet Willehalm auf alle Annehmlichkeiten, das betrifft sowohl seine Übernachtungsmöglichkeiten als auch die Mahlzeiten, die er zu sich nimmt. Der Zutritt zum Hof wird Willehalm zunächst auf Betreiben von dessen Schwester, der Frau des französischen Königs, verweigert, als Willehalm tags darauf doch eingelassen wird, kommt es zum Affront. Mit knapper Not kann verhindert werden, dass Willehalm seine Schwester tötet. Die Weigerung des Königspaars, Willehalms Bitte um Unterstützung nachzukommen, war der Anlass. Der Bericht vom Tod von Vivianz ändert die Situation. Willehalms Schwester ist nun bereit, ihren Bruder tatkräftig zu unterstützen. Schließlich sagt auch König Lois seine Unterstützung zu. Davor hatte dies bereits auch die Familie von Willehalm getan. Das Reichsheer wird versammelt. Durch die Zusage des Königs wird der Krieg auf eine andere Ebene verlagert, er ist jetzt eine Reichsangelegenheit. Wichtig am Besuch des Hofes ist, dass Willehalm dort den riesenhaften Rennewart kennen lernt. Dieser lebt, obwohl von hoher Geburt, als Küchenhilfe am Königshof, weil er sich weigert, sich taufen zu lassen. Durch seine Sprachkenntnisse kann sich Willehalm mit Rennewart in dessen Muttersprache unterhalten. Er bittet den König, Rennewart mit sich nehmen zu dürfen, was dieser schließlich, auch auf Bitten seiner Tochter Alize, die in Rennewart verliebt ist, zulässt. Lois übergibt Willehalm die Reichsfahne und macht ihn zum Heerführer des Reichsheeres. Der Fokus kann so auf Willehalm bleiben, der Krieg, der nun geführt wird, bleibt auch ohne persönliche Beteiligung des Königs, wie bereits angedeutet, ein Krieg des Reiches gegen Invasoren. Unter der Führung Willehalms zieht das Heer Richtung Oransche. Von weitem sieht Willehalm nachts ein Feuer leuchten, das in der Richtung der Stadt liegt. Er ist verzweifelt.

Der Erzähler wendet seinen Blick zurück. Gyburg ist es während der Abwesenheit von Willehalm gelungen, die Burg zu halten. In einer Kampfpause kommt es zum so genannten Religionsgespräch, das später näher behandeln werden soll. Das Gespräch findet im Grunde in zwei Abschnitten statt, wobei nur der zweite Teil als Religionsgespräch bezeichnet wird. Dennoch sollen vor der Behandlung des eigentlichen Religionsgesprächs einige Hinweise auf die erste Tochter-Vater-Begegnung nach der Konversion Arabels erfolgen. Bei der Rückkehr Willehalms kommt es wieder zu einem liebevollen Empfang, obwohl Gyburg deutlich von den Strapazen gezeichnet ist. Als die französischen Fürsten in Oransche eintreffen, befiehlt Gyburg ihren Hofdamen, sich schön zu machen, um für gute Stimmung während des stattfindenden Festmahls zu sorgen. Es entsteht in zweierlei Hinsicht eine groteske Situation. Zum einen kann Willehalm selbst das Festbankett nicht ausrichten, er bedarf der Unterstützung von Heimrich, seinem Vater, zum anderen – und bemerkenswerter – das Festbankett wird vor der Kulisse der brennenden Stadt abgehalten. Es ist zwar gelungen, die Burg zu halten, die sie umgebende Stadt aber brennt. Als Rennewart beim Festbankett erscheint, fühlt sich der Erzähler an den jungen Parzival erinnert. Es wird so eine unmittelbare Verbindung zum ersten Werk Wolframs hergestellt. Gyburg selbst sieht die Ähnlichkeiten zu ihren Verwandten.

Das Festbankett ließe sich zwar näher betrachten. Da der Fokus auf Gyburg ruht, soll aber nur kurz etwas zu ihr bzw. ihrem Verhalten während des Banketts und einigen zentralen Aspekten des Festes ausgeführt werden. Ihr Schwiegervater setzt sie an seine Seite. Sie ist untröstlich und weint, was im gegebenen Zusammenhang als unhöfisches Verhalten gelten muss. Willehalm kümmert sich nach der Aufhebung des Festmahls darum, dass alle gut versorgt sind, und lädt alle zur Fürstenversammlung am nächsten Tag ein. Das Paar zieht sich in seine Kemenate zurück. Die Geschehnisse um Rennewart, der während des Festbanketts schon für einen Eklat sorgte, es wird nicht der einzige bleiben, sollen nur andeutungsweise thematisiert werden. Rennewart zieht sich schlussendlich in die Küche zurück, um zu schlafen. Der Erzähler fasst Rennewarts Geschichte folgendermaßen zusammen: Rennewart wurde als Kleinkind entführt und kam schließlich an den Hof des französischen Königs. Er hadert mit seinem Schicksal, weil er glaubt, seine Familie habe ihn im Stich gelassen. Sein Kampf für die Christen, obwohl er selbst Heide ist und sich weigert, sich taufen zu lassen, ist als Rache an seiner Familie zu betrachten. Allerdings hat seine Familie nach ihm gesucht, seine Rache basiert deshalb im Grunde auf einer falschen Annahme. Die Rezipienten erfahren wieder einen Teil der Geschichte, der ihnen das Verständnis erleichtert.

Auch in der Küche kommt Rennewart nicht zur Ruhe. Ein Koch versengt ihm seinen Bart, was dazu führt, dass Rennewart den Koch im Feuer verbrennt. Als Willehalm am nächsten Morgen davon erfährt, übergibt er Rennewart Gyburg, die ihn besänftigen soll. Als Gyburg und Rennewart sich treffen und unterhalten, bemerken sie eine gewisse Nähe. Gyburg möchte Näheres über die Herkunft Rennewarts erfahren, dieser verweigert jedoch die Auskunft. Gyburg ist Rennewarts Schwester, er ist also Terramers Sohn. Er versichert ihr, dass er treu an der Seite von Willehalm kämpfen werde. Nur widerwillig lässt sich Rennewart, der immer nur mit seiner Stange kämpfte, von Gyburg eine Rüstung schenken, deren Einsatz zwar für das Textverständnis bzw. für die Interpretation des Werkes von Interesse ist, im vorliegenden Zusammenhang aber keine Rolle spielt und nicht näher betrachtet werden muss.

Bevor es zur zweiten Schlacht kommt, findet die angesprochene Fürstenversammlung statt, an der auch Gyburg teilnimmt – ein erstaunliches Phänomen. Noch auffälliger ist, dass sie das Wort ergreift, eine Rede hält, in der es um die Schonung des Gegners und Toleranz gegenüber den Andersgläubigen geht. Gyburg selbst bezeichnet sich während dieser Rede, die ebenfalls genauer analysiert werden wird, als „törichte Frau“.

Rennewart wird zur entscheidenden Gestalt. Er zwingt nicht nur die französischen Fürsten, die angesichts der riesigen Übermacht des heidnischen Heeres fliehen wollen, an der Seite Willehalms zu kämpfen, er führt auch die Wende in der Schlacht herbei. Die Darstellung der Schlacht wäre es sicher wert, getrennt in den Blick genommen zu werden, für den vorliegenden Zusammenhang, genügen jedoch einige eher summarische Hinweise. Rennewart stellt sich an die Spitze des christlichen Heeres, das vor einer neuerlichen Niederlage steht, und führt es als Heide zum Sieg. Dies ist bei Wolfram jedoch kein zentraler Gedanke, er formuliert dies im Gegensatz zu seiner französischen Vorlage nicht explizit. Die siegreichen christlichen Truppen plündern, viele betrinken sich. Die Gefallenen werden nach ihrem Stand behandelt, also an Ort und Stelle begraben, dies gilt für die einfachen Ritter, die Fürsten und Könige, die nach Hause überführt werden sollen, werden einbalsamiert. So weit ließe sich formulieren, dass alles den gewohnten Bahnen gemäß verläuft. Die Freude über den Sieg wird allerdings massiv getrübt, als bekannt wird, dass Rennewart verschwunden ist. Willehalm ist völlig verzweifelt. Er lässt sich kaum beruhigen, er ist auf Grund seiner maßlosen Trauer handlungsunfähig. Seine Getreuen rügen ihn deswegen und fordern ihn auf, seine Pflichten als Heerführer zu erfüllen.

Willehalm rafft sich auf und erteilt Befehle. Es lässt sich formulieren, dass die geschilderte Handlungsweise dem entspricht, was Gyburg im Verlauf ihrer Rede im Fürstenrat von den christlichen Kämpfern forderte. Willehalm schont die noch lebenden Heiden, er verfolgt sie nicht und lässt sie auch nicht töten. Es wäre gemäß der Situation nach der Schlacht durchaus möglich, das verbliebene heidnische Kontingent restlos aufzureiben, niederzumetzeln oder wenigstens zu verlangen, dass die Heiden sich zum Christentum bekehren, nichts davon geschieht. Willehalm lässt stattdessen die toten Heidenkönige zusammentragen und einbalsamieren. Er beauftragt einen der gefangenen Heidenkönige, Matribleiz, alle toten Könige, auch die in der ersten Schlacht gefallenen, zu Terramer zu bringen, damit sie nach heidnischem Ritus bestattet werden können. Matribleiz solle Terramer mitteilen, dass er nicht aus Furcht handle, er wolle vielmehr das Geschlecht Gyburgs ehren. Er sei bereit, mit Terramer in Frieden zu leben, aber dieser dürfe nicht verlangen, dass er dem Christentum abschwöre oder Gyburg zurückgeben werde. Mit einem Geleit darf Matribleiz abziehen. Damit endet der überlieferte Wortlaut des Werkes.

Rollen und Funktionen Gyburgs — ein Zwischenfazit

Zu Gyburg lässt sich, was ihre Rollen bzw. Funktionen anbelangt, Folgendes zusammenfassen: Nur kurz wird erwähnt, dass Willehalm Arabel für sich gewann, weswegen viele Menschen sterben mussten. Die Stellung, die Arabel einnahm, bevor sie sich auf den Namen Gyburg taufen ließ und Willehalm heiratete, wird erst sehr viel später deutlich, sie war die Ehefrau von Tybald und dadurch Königin. Außerdem wird im Verlauf des Werkes dargestellt, dass sie mehrfache Mutter ist. Ihr Sohn Ehmereiz kämpft auf der Seite der Heiden. Gyburg ist der primäre Kriegsgrund, weshalb sie sich als Fluchbeladene sieht. Sie ist Geliebte im oben beschriebenen Sinn, als Ehefrau Willehalms Markgräfin und dessen Beraterin. Sie ist Kämpferin und verteidigt hauptsächlich mit den Hofdamen, aber auch durch die Anwendung einer List, erfolgreich Oransche. Sie wird, das darf formuliert werden, obwohl sie sich unhöfisch verhält, zur Gastgeberin der französischen Fürsten.

Eine ganz wesentliche Erweiterung und damit einhergehend Steigerung der Bedeutung erfährt die Gestalt aber dadurch, dass sie das Religionsgespräch mit ihrem Vater führt. Dass sie als Frau dieses Gespräch führt, ist allein schon eine Besonderheit, die allerdings dadurch, dass sie dies als konvertierte Heidin tut, noch gesteigert wird. Gyburg wird als konvertierte Heidin zur Verteidigerin des christlichen Glaubens. Den Gipfelpunkt, was ihre Bedeutung betrifft, erreicht Gyburg aber erst gegen Ende des Werkes, als sie, dies wurde schon angedeutet, – ungewöhnlich genug – nicht nur am Fürstenrat teilnimmt, sondern dort auch das Wort ergreift, eine Rede an die anwesenden Fürsten richtet, die von großer Brisanz ist und deren Inhalt – aus damaliger Sicht – zumindest als provokant zu bezeichnen ist. In der Forschung wird diese Rede oft als Toleranzrede bezeichnet.

Die herausragende Bedeutung Gyburgs wird dann zu Beginn des IX. Buches expressis verbis manifest, denn Gyburg wird nun direkt als Heilige tituliert. Das korrespondiert zu der Darstellung von Willehalm als Heiligem. Wie am Anfang des Werkes Willehalm so wird zu Beginn des IX. Buches Gyburg als Heilige angerufen, wobei ein Gebetstopos verwendet wird, in dem, auf den wesentlichen Aspekt reduziert, der Hoffnung Ausdruck verliehen wird, dass Gyburg dem Erzähler zur ewigen Seligkeit verhelfen möge. Es ließe sich formulieren, dass der Erzähler die Interpretation der Gestalt und die Wertschätzung, die ihr aus der Darstellung erwachsen soll, dieser Hinweis sei hier schon gestattet, verbalisieren und damit vorgegeben will. Eine Maßnahme, die ihm vielleicht auch deshalb angebracht schien, weil er Gyburg hat formulieren lassen, dass sie eine „törichte Frau“ sei. In diesem Zusammenhang könnte auch auf den thematisierten Gyburgexkurs verwiesen werden. Auch in diesem überließ der Erzähler die Bewertung nicht seinen Rezipienten.

Das Religionsgespräch

Während eines Waffenstillstandes kommt es zu einem ersten Treffen von Vater und Tochter, seit diese zum Christentum konvertierte. Willehalm ist auf dem Weg zum König, Gyburg ist bereit, Oransche zu verteidigen, sie will keinesfalls zulassen, dass ihrem Vater Terramer alles zufällt, er sie tötet und die Christen dem Heidentum zuführt. Außerdem berichtet der Erzähler davon, dass Terramer seiner Tochter massiv damit droht, dass sie getötet werden wird, wenn sie nicht zu ihrem alten Glauben und ihrem Ehemann zurückkehrt. Insgesamt werden drei Tötungsarten angesprochen. Erst nach dieser Schilderung der Situation spricht Gyburg ihren Vater direkt an und weist sein Ansinnen schroff zurück. Sie verweist darauf, dass sie fest davon überzeugt sei, dass der Sieg den Christen zufallen wird. Nach dieser direkten Rede übernimmt der Erzähler wieder die Schilderung der Handlung. In einer Prolepse weist er darauf hin, dass das Gespräch zu einem späteren Zeitpunkt eine Fortsetzung erfahren wird. Als Grund für die Unterbrechung nennt er den Tagesanbruch. Die Prolepse verweist auf das eigentliche Religionsgespräch, um dessen Analyse es im Kern gehen soll. Es erscheint aber sinnvoll, auf das erste, kurze Vater-Tochter-Gespräch einzugehen, weil es die eigentliche Auseinandersetzung um den wahren Glauben vorbereitet.

Auf der weltlichen Seite ihrer Argumentation gaukelt Gyburg ihrem Vater vor, dass die Niederlage Willehalm kaum beeindruckt hat, das gilt auch für die Verluste, die er hinnehmen musste. Statt sich Sorgen zu machen, nimmt Willehalm angeblich an einem Turnier teil. Gyburg beschimpft die „verdammten Sarazenen“ (W 110, 21), die sie aber auch als ihre Verwandten bezeichnet. Sie weist ihren Vater darauf hin, dass ihm und seinen Kämpfern der zweifache Tod unmittelbar bevorsteht. Sie kontrastiert diesen mit den drei Todesarten, die ihr ihr Vater angedroht hatte, offenkundig um diese als unbedeutend zu charakterisieren. Es handelt sich bei der Androhung des zweifachen Todes der Heiden um einen verbreiteten Gedanken. Der Tod der Heiden bedeutet, dass nicht nur der Leib stirbt, sondern auch die Seele, die bei gläubigen Christen das ewige Leben gewinnt. Selbst ihr Gott Tervigant, auf den später eingegangen werden wird, habe erkannt, dass die Heiden Narren seien (W 110, 29–30). Diese knappen Hinweise deuten schon an, dass Gyburg die Grundlagen und Dogmen ihres neuen Glaubens verinnerlicht hat.

Als Grundvoraussetzung für das Verständnis des Religionsgesprächs muss vorab erwähnt werden, dass die Muslime in der Literatur um 1200 grundsätzlich als Anhänger einer polytheistischen Religion betrachtet wurden. Diese irrige Auffassung ist insofern erstaunlich, als es schon seit Karl dem Großen immer wieder Kontakte zwischen Christen und Muslimen gab und bereits 1141 der Koran ins Lateinische übersetzt worden war. Die Namen der Götter stellen überwiegend ein Sammelsurium aus der griechischen und römischen Mythologie dar. Daneben gibt es aber auch Götternamen, deren Herkunft unbekannt ist. Mohammed wird in diesem Verstehenskontext nicht als Prophet, sondern als Gott eingestuft.

Gyburg versucht, ihrem Vater zu erklären, warum sie sich taufen ließ. Sie weist dabei auf zwei Aspekte hin, auf die sie sich im Verlauf des Gesprächs mehrfach beruft:

si sprach: „ich hân den touf genomen

durh den, der al die krêatiure

geschuof, daz wazzer und daz viure,

dar zuo den luft unt die erden.

der selbe hiez mich werden.

und al, daz lebehaftes ist.

solt ich Mahmeten Krist

unt den marcrâven verkiesen

unt mînen touf verliesen
(W 215, 10–18)

,sagte sie: „Ich hab die Taufe angenommen

um dessentwillen, der alle Kreatur

geschaffen hat, das Wasser und das Feuer,

dazu die Luft, die Erde.

Der hieß mich entstehen

und alles, was lebendig ist.

Sollt ich für Mohammed auf Christ

und den Markgrafen verzichten

und meine Taufe opfernʻ

Es geht Gyburg zunächst darum, den christlichen Gott als den überlegenen, allmächtigen Schöpfer darzustellen, der nicht nur die vier Elemente, die sie benennt, erschuf, sondern auch alle Kreaturen. Gyburg weist dabei auf einen Gesichtspunkt hin, der für ihre Argumentation auch später eine zentrale Rolle spielen wird, indem sie ausführt, dass der, der aller Kreatur das Leben gab, auch sie erschaffen hat. Gyburg baut eine Argumentation auf, der von kirchlicher Seite kaum widersprochen werden konnte. Damit macht sie, an dieser Stelle eher noch implizit, aber auch deutlich, dass selbst die Heiden Geschöpfe Gottes sind. Sie wendet sich außerdem mit der wohl rhetorisch aufzufassenden Frage an ihren Vater, ob sie für Mohammed diesen Gott, erstaunlicherweise nennt sie an dieser Stelle, gewissermaßen stellvertretend für die Trinität, Christus, den Markgrafen, ihren geliebten Ehemann, und die Taufe aufgeben solle. Mohammed wird an dieser Stelle mit Christus gleichgesetzt also als Gott aufgefasst (W 215, 16). Mohammed an der Seite von Christus, ein ungleiches Paar? Für die mittelalterlichen Rezipienten galt das eher nicht, denn in der mittelalterlichen Vorstellungswelt waren die Muslime, wie angesprochen wurde, Anhänger einer polytheistischen Religion, sie beteten dementsprechend viele Götter, häufig als Götzen bezeichnet, an, einer davon war Mohammed, der ja eigentlich nur der Prophet war, umgekehrt galt und gilt Christus den Muslimen nicht als Gott, sondern als Prophet.

Auch an der nächsten zitierten Stelle verbindet Gyburg ihre Liebe zu Willehalm mit der zum christlichen Gott, der nun als der Höchste tituliert wird:

ich was ein küniginne,

swie arm ich urbor nû sî.

ze Arâbîâ unt in Arâbî

gekroenet ich vor den vürsten gie,

ê mich ein vürste umbevie.

durh den hân ich mich bewegen,

daz ich wil armuot pflegen,

unt durh den, der der hoehste ist.

wâ vund ouch Tervagant den list,

den êrsten revant Altissimus?
(W 215, 26–216, 5)

,Ich war eine Königin,

wie arm an Ländern ich jetzt bin.

In Arabien und in Arabi

trug ich Krone vor den Fürsten,

eh ein Fürst mich nahm.

Für diesen hab ich mich entschlossen,

arm zu sein,

und für jenen, der der Höchste ist.

Woher auch nähme Tervagant die Kunst,

die Altissimus erfand?ʻ

Gyburg gab für ihre Liebe ihre mächtige Position als Königin auf. Sie bezeichnet sich selbst als arm. Die Betonung der Armut wird zu einem zentralen Aspekt. Diese Armut nimmt sie zwar, wie angesprochen, für Willehalm auf sich, aber eben auch für den christlichen Gott. Durch diesen Hinweis lässt sich ein Bezug zum religiösen Ideal der ʻimitatio Christiʻ, der Nachfolge des armen Christus, herstellen. Das Motiv der Armut gehört, wie angedeutet, zu den wiederkehrenden Aspekten, die Gyburg anspricht, es handelt sich um einen der wichtigsten Gedanken in ihren Ausführungen. Ob dieser Gedanke notwendigerweise, wie es in der Forschung geschah, als ein Reflex der franziskanischen Gesinnung zu sehen ist, lässt sich schwerlich nachweisen. Da ansonsten spezifisch franziskanische Züge in Gyburgs Ausführungen nicht zu erkennen sind, erscheint diese Zuordnung eher fraglich. Das Armutsideal darf als solches zu den Grundgedanken des christlichen Lebens gezählt werden, weshalb eine genauere Zuschreibung, zumal unter den dargelegten Voraussetzungen, nicht vorgenommen werden sollte.

Gyburg zieht zum Vergleich mit dem christlichen Gott Tervagant heran. Dieser Name, mit leicht schwankenden Graphien, ist auch aus anderen Zusammenhängen bekannt, ohne dass klar wäre, woher der Name kommt. Der Name darf in aller Regel als Bezeichnung für den höchsten heidnischen Gott aufgefasst werden, der christliche Gott wird also zum höchsten heidnischen in Beziehung gesetzt. Gyburg macht mehr als deutlich, dass Tervagant nicht annähernd die Machtfülle hat wie der christliche Schöpfergott. Unterstrichen wird dies formal, indem die Bezeichnungen für den christlichen Gott im Vers vor und im Vers nach der Nennung des heidnischen Gottes vorkommen und beide Male durch einen Superlativ zum Ausdruck gebracht werden. Dass mit dieser formalen Komponente eine inhaltliche Abwertung des heidnischen Gottes einhergeht, wurde bereits angedeutet, inhaltlich tatsächlich zum Ausdruck gebracht wird sie durch eine, nach Spott klingende, wieder nur als rhetorisch gemeint aufzufassende Frage, die das Bild vervollständigt (W 216, 4–5).

Im Folgenden betont Gyburg weiter die Allmacht Gottes, wobei sie jetzt auf das Firmament zu sprechen kommt. Zunächst erwähnt sie den „Pôlus antarticus“ (W 216, 6), eigentlich „Pôlus antarcticus“, ein Südpolarstern als Gegenstück zum tatsächlich existierenden Polarstern im Norden. Es handelt sich um einen fiktiven Stern, der in der mittelalterlichen Astronomie postuliert wurde. Die Erwähnung dieses Sterns dokumentiert zweifelsohne zusätzlich das Niveau der Argumentation Gyburgs, es zeigt aber schlussendlich auch die Bildung des Autors, der hinter den Ausführungen steht. Den soeben besprochenen, erfundenen Stern und die generisch angesprochenen sieben Planeten, tarierte Gott alle zu einem harmonischen Gebilde aus, das ewigen Bestand hat. Der Verweis auf die Erschaffung der Gestirne ist ebenso traditionell, wie dass darauf der Verweis auf die Winde und die Gewässer folgt. Eingeleitet wird dieser durch eine Frage, die sicher wieder als rhetorisch aufzufassen ist. Gyburg formuliert: Sind eure Götter dem gleich, der die Winde beherrscht, die Quellen sprudeln lässt, und der der Sonne „dreierlei Natur“ (W 216, 20) gab. Sie bringt die Wärme, das Leuchten zur Sprache, besonders aber scheint der Hinweis zu sein, dass die Sonne in Bewegung ist und dadurch den Wechsel von Tag und Nacht bringt. Traditionell findet als dritte Natur die Feurigkeit Erwähnung. Der Hinweis darauf, dass die Sonne das Licht nimmt und bringt (W 216, 23), rekurriert auf das damalige geozentrische Weltbild, bei dem die Erde als Mittelpunkt verstanden wird, um den die Sonne sich dreht. Sich für diesen allmächtigen Gott in die Waagschale zu werfen, scheint Gyburg ein Leichtes. Sie glaubt fest daran, dass er sie für allen Schaden entschädigen wird, er wird darüber hinaus aus der Armut des Leibes den Reichtum der Seele machen. Erneut ist damit von der bereits eingeführten und als wiederkehrendes Motiv angesprochenen Armut die Rede.

Der Rest ihrer Ausführungen bezieht sich auf die ungerechtfertigten Forderungen Tybalts und beinhaltet Vorwürfe, die Gyburg an ihren Vater richtet. Sicher ließen sich bei dem Zusammengefassten einige Aspekte vertiefen, aber es sollen nur die zentralen Argumente Gyburgs und die wichtigsten Gesichtspunkte der Erwiderungen ihres Vaters eine Rolle spielen.

Schon in Terramers erster Erwiderung wird der innere Zwiespalt des liebenden Vaters deutlich zum Ausdruck gebracht. Er beteuert seiner Tochter gegenüber, dass er sie liebt. Was ihn veranlasste, seinen Schwiegersohn zu unterstützen und Gyburg zu drohen, war kein Hass auf seine Tochter. Es war auch nicht die Bitte seines Schwiegersohns, es war vielmehr die Angst, sündenbeladen zu sterben. Terramer hat, so versichert er, Gyburg als Tochter nicht aufgegeben. Festzuhalten ist, dass Terramer seine Tochter im vorliegenden Zusammenhang tatsächlich mit ihrem christlichen Namen, Gyburg, anspricht, ansonsten nennt er sie nach ihrem heidnischen Namen Arabel. Dies ist zwar bemerkenswert, allerdings ist nicht greifbar, welche Intention, falls überhaupt eine, dahintersteht. Möglicherweise liegt schlicht ein Versehen des Schreibers der Leithandschrift vor? Die Mehrzahl der Handschriften zeigt den heidnischen Namen. Bei dem, was Terramer äußert, handelt es sich um einen der Kerngedanken der gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen Christen und Heiden. Einen Andersgläubigen zu töten, um damit die eigenen Sünden zu tilgen, gehört zu den immer wiederkehrenden Aussagen der Kreuzzugspropagandisten. Dieser Gedanke dürfte den Rezipienten demnach geläufig gewesen sein, allerdings aus einer anderen, der christlichen Perspektive. Die Generalabsolution für die Teilnahme an einem Kreuzzug beinhaltet auch, dass die Teilnehmer für die Befreiung des Heiligen Landes und damit einhergehend die Tötung von Muslimen, aller Sünden ledig sein werden.

Insgesamt ist bemerkenswert, dass Terramer in seiner ersten Antwort auf die Ausführungen Gyburgs im Grunde auf deren Argumente nicht eingeht, er schildert vielmehr seinen Zwiespalt, er ist liebender Vater aber eben auch ein Sünder, der sich durch die Verteidigung seines Glaubens reinwaschen will. Die Darstellung dieses inneren Konflikts gehört zu den herausragenden Leistungen des Autors.

Gyburg wendet sich nach der Erwiderung ihres Vaters dem Sündenfall zu. Eva bedeckte aus der von Gott verursachten Scham ihre Brust, in der die Ursache dafür wohnte, dass sie durch die Verlockungen des Teufels schwach wurde. Bei der Entdeckung der Nacktheit und der daraus resultierenden Scham handelt es sich um ein allseits bekanntes Motiv. Der Teufel stellt auf Grund der Verführbarkeit Evas den Menschen nach. Dies ist aber nur eine der möglichen Deutungen dafür, dass der Teufel den Menschen nachstellt. Um eine weitere anzuführen, sei darauf verwiesen, dass Luzifer, der anmaßende Vertreter des 10. Engelchors, der aus dem Himmel vertrieben und durch die Erschaffung des Menschen ersetzt wurde, die Menschen deshalb aus Neid verfolgt. Gyburg erwähnt an dieser Stelle auch Platon und Sibylle, die als Weissager angesprochen werden, ohne jedoch auf die folgende Argumentation zu verweisen. Möglicherweise handelt es sich um einen Reflex der weit verbreiteten Legende von der heiligen Katharina.

Eva wurde schuldig, aber auch Adam wurde bestraft! Hier greift Gyburg einen Aspekt auf, der in der zeitgenössischen theologischen Diskussion einen großen Stellenwert einnahm. Wichtig ist im vorliegenden Zusammenhang nicht die Entscheidung, wer die Schuld trug, die im Mittelalter zu Ungunsten Evas ausfiel, sondern die Tatsache, dass implizit die Frage, warum auch Adam bestraft wurde, angesprochen wird, denn dies verweist darauf, dass die einschlägige, scholastische Diskussion dem Autor bekannt war, und er sie der Heidin Gyburg in den Mund legte:

Eve al eine schuldic wart,

dar umbe die helleclîchen vart

Adâmes geslehte vuor iedoch.
(W 218, 15–17).

,nur Eva wurde schuldig,

doch mußte dafür

das Geschlecht Adams in die Hölle fahren.ʻ

Ungeachtet der Tatsache, dass dies sicher auch im Bewusstsein des Autors und seiner Rezipienten gegenwärtig war, könnte auch ein anderer Gedanke eine Rolle gespielt haben. Vielleicht sieht Gyburg eine gewisse Parallele zwischen sich und Eva, auf die verwiesen werden könnte. Wie Eva die Schuld am Sündenfall und den Folgen trug, so ist Gyburg diejenige, die durch ihre Entscheidung den Krieg verursacht hat. Ähnlich wie Adam ist zwar auch Willehalm nicht frei von Schuld, aber Gyburg sieht sich wahrscheinlich als diejenige, der die Hauptschuld am Krieg und am Sterben zufällt.

Ihre weitere Argumentation führt zielgerichtet zur Erlösung aus der Hölle und zur Trinität. Gyburg erwähnt dabei, dass nur Elias und Henoch der Weg in die Hölle erspart blieb, beide wurden von Gott entrückt, das heißt, sie starben nicht, sondern wurden von Gott bei lebendigem Leib zu sich geholt. Alle anderen Menschen mussten bis zum Erlösungs- oder Opfertod Christi den Weg in die Hölle gehen. Mit dieser Aussage fußt Gyburg auf der Vorstellung, dass Christus nach seinem Kreuzestod in die Hölle hinabstieg und deren Pforten sprengte, wodurch er die Seelen der Gerechten befreite. Nicht einzigartig, aber doch eine besondere Variante liegt an dieser Stelle insofern vor, als nicht Christus allein die Pforten sprengte, sondern die Trinität insgesamt dies vollbrachte. Allerdings muss beachtet werden, dass Gyburg sehr nachdrücklich auf die Einheit der drei göttlichen Gestalten hinweist, sie insistiert geradezu auf dieser Einheit. Sie betont auch, dass der Sohn Gottes sich nur ein einziges Mal zur Erlösung der Menschen opfert, eine Wiederholung wird es nicht geben:

wer was, der si lôste dan

unt der die sigenunft gewan,

daz er die helleporten brach,

unt der Adâmes ungemach

erwante? daz tet diu Trînitât!

der sich einen selben dritten hât,

ebengelîch unt ebenhêr,

sich: der enstirbet nimmer mêr

durh man noch wîbes schulde.

nû wirp um dessen hulde!“
(W 218, 21 – 30).

,Wer hat sie davon erlöst

und den Sieg errungen,

daß er die Höllenpforten brach,

und der Adams Leid

beendet? Das tat die Trinität!

Der Einer ist und dabei Drei,

ganz gleich und gleichermaßen heilig,

sieh: der stirbt nie wieder

für die Schuld der Menschen.

Bemüh dich drum um seine Huld!“ʻ

Wenngleich dies nicht thematisiert wird, sei als erklärender Hinweis angefügt, dass der Opfertod Christi heilsnotwendig war, weil die Sünden, die die Menschen begangen hatten, so immens waren, dass sie diese selbst nicht hätten tilgen bzw. durch Buße hätten vergelten können. Um diese Sünden zu tilgen, war es heilsnotwendig, dass Christus als Sohn Gottes starb. Diese Form der Sündentilgung, dies wurde bereits betont, ist ein einmaliger Akt.

Terramer begegnet den Ausführungen Gyburgs mit Spott. Er wirft die Frage auf, warum Christus durch die Trinität nicht gerettet wurde. Er zieht die jungfräuliche Geburt in Zweifel und weist die Aussage, dass Christus die Höllenpforten zerbrochen habe, mit dem Hinweis darauf zurück, dass dieser für eine solche Tat zu schwach gewesen wäre. Terramer schildert, um seine Ansicht zu untermauern, seine Kenntnisse von den Höllenqualen, die auf den Offenbarungen seiner Götter beruhen. Er schließt mit dem verzweifelt klingenden Resümee:

waz ist an mir gerochen

mit dem ungelouben dîn?

bekêre dich, liebiu tohter mîn!“
(W. 219, 20-22).

,was wird an mir gestraft

mit deinem Aberglauben?

Bekehr dich, liebe Tochter!“ʻ

Gyburg erwidert, indem sie zunächst auf die zweifache Natur von Christus hinweist, der als Mensch den qualvollen Tod am Kreuz starb, dessen göttliche Natur jedoch davon unbeschadet weiterlebte, indem der Mensch Christus starb, konnte Christus als Gott leben:

„ich hoere wol, vater, ez ist dir leit.

dô Jêsus mennischeit

der tôt an dem kriuze müete,

innen des sîn leben blüete

ûz der gotlîchen sterke.

lieber vater, nû merke:

innen des unt diu mennischeit erstarp

diu gotheit ir daz leben erwarp.
(W 219, 23 – 30)

,„Ich hör, daß es dir leid ist, Vater.

Als Jesu menschliche Natur

der Tod am Kreuz gequält hat,

da blühte doch sein Leben auf

aus der Gottesstärke.

Lieber Vater, mach dir klar:

indem der Mensch gestorben ist,

errang der Gott das Leben.ʻ

Ein Reflex dieser Auffassung stellt die heute noch von den Christen gefeierte Himmelfahrt dar. Christus fährt in menschlicher Gestalt aber als Teil der Trinität zu seinem Vater auf in den Himmel.

Nach diesem Hinweis wendet sich Gyburg dem zweiten Grund zu, der sie davon abhält, zurückzukehren: die Liebe zu ihrem Ehemann Willehalm. Was nun geschildert wird, hat nur noch wenig mit einer Auseinandersetzung um den Glauben zu tun, es trägt aber erheblich zum Textverständnis bei, weshalb es in aller Kürze angedeutet werden soll. Die Rezipienten erfahren jetzt, wie und wodurch sich Gyburg und Willehalm kennen und lieben gelernt haben. Gyburg selbst hat den in Gefangenschaft geratenen Willehalm befreit und ist mit ihm in christliche Gefilde gezogen. Auch diesen Argumentationsfaden schließt Gyburg mit einer Hinwendung zum Glauben: ich diente im und der hoesten hant. (,Ihm dient ich und der Höchsten Hand.ʼ; W 220, 30), was sie tat, tat sie für Willehalm aber eben auch für Gott. Von ihrem christlichen Glauben wird sie sich nicht abbringen lassen, auch dann nicht, wenn sie dafür Verzicht üben muss. Sie äußert Vorwürfe gegen ihren ehemaligen Ehemann, der ungerechtfertigte Forderungen hinsichtlich ihres und seines Erbes erhebt, auch ihren Vater bezieht sie in die Vorwürfe mit ein, schließlich bilanziert sie:

mahtû Todjerne, mîn erbeteil,

Tîbalde und Ehmereize geben,

und lâze mich mit armuot leben!“
(W 221, 24–26).

,Gib doch Todjerne, das ich erbte,

dem Tibalt und dem Emereiß

und laß mich in Armut leben!“ʻ

Gyburg ist also sogar bereit, auf ihr zustehendes Erbe zu verzichten. Wieder spielt sie auf die Armut an, die sie bereit ist, für ihren Glauben auf sich zu nehmen.

Literaturgeschichtlich von Interesse sind innerhalb der angesprochenen Vorwürfe, dies nur als Hinweis, die Bezüge zum ,Rolandsliedʼ (W 221, 11–19). Diese Bezüge können hier nicht weiterverfolgt werden, es gilt aber dennoch zu betonen, dass Wolfram das angesprochene Werk nicht nur kannte, wodurch die Hinweise auf seine Bildung und seine Kenntnisse ergänzt werden, sondern bei seinen Rezipienten ein entsprechendes Wissen unterstellte, denn ohne ein solches würden Gyburgs Ausführungen ins Leere laufen. Solche intertextuellen Bezüge sind Mosaiksteinchen bei den Versuchen, zu verstehen, wie es einen „Literaturbetrieb“ geben konnte, und wie er funktionierte in Zeiten eines Analphabetentums von 90 bis 95%. Sie zeigen aber auch allgemein die Dynamik mittelalterlicher, literarischer Texte auch epischen Umfangs, deren Inhalt nicht allein durch das Medium der Schrift verbreitet wurden.

Fazit zum Religionsgespräch

Es konnte und sollte bei der Vorstellung des Inhalts des eigentlichen Religionsgesprächs, und diese Feststellung gilt auch für die Analyse der Rede Gyburgs im Fürstenrat, auf die noch eingegangen werden wird, nicht darum gehen, die Quellen der Aussagen im Einzelnen und systematisch zu erörtern, weil es in diesem Bereich immer noch kontroverse Ansichten gibt. Diese im Detail nachzuverfolgen, ist zwar denkbar, würde aber das Ziel, den Text zunächst möglichst durch eine an ihm selbst orientierte Analyse verstehen zu wollen, überfrachten. Summarisch kann festgehalten werden, dass Wolfram eine ganze Reihe wesentlicher Texte aus dem Bereich der theologischen und der apologetischen Tradition kannte. Ob seine Kenntnisse auf volkssprachliche Texte beschränkt waren, ist schon Teil der Kontroverse und soll, entsprechend dem Gesagten, nicht weiterverfolgt werden. Sollte es eindeutige Quellenzuweisungen geben, werden bzw. wurden diese angeführt. Dies gilt, um ein Beispiel zu nennen, für die Feststellung, dass Wolfram das ,Rolandsliedʻ sicher kannte und Bezüge dazu herstellte. Eher implizit lässt sich die Kenntnis der ,Kaiserchronikʻ nachweisen, die Wolfram benutzte, genauer ist damit der Disput innerhalb der ,Silvesterlegendeʻ gemeint.

Die Allmacht Gottes, das Armutsideal als ‚imitatio Christiʻ dürfen als Kernthemen bezeichnet werden. Es fällt besonders bei diesem Aspekt die Verbindung, das Nebeneinander von Christus und dem Markgrafen auf, die religiöse und die weltliche Liebessphäre werden fast ineinander verwoben. Dieses Miteinander sollte als Ausdruck der Lebenserfahrung Gyburgs gewertet werden. Wichtig sind aber auch die Auseinandersetzung mit der Trinität, die jungfräuliche Empfängnis und Geburt Christi sowie dessen Opfertod, der einmalig ist, die zwei Naturen Christi, dessen menschliche Natur stirbt, der aber als Gott weiterlebt und zum Vater in den Himmel auffährt. Das wirklich Besondere ist, dass die Argumente von einer Frau artikuliert werden, noch dazu von einer getauften Heidin. Es handelt sich um eine wesentliche Erweiterung der Frauenrolle!

Terramers Gegenargumente sind von einem latenten Spott getragen. Er macht sich lustig über die Dreieinigkeit, die Tatsache, dass es für Christus keine Rettung gab, er formuliert das Unverständnis dafür, dass ein Gott stirbt, moniert die jungfräuliche Empfängnis und Geburt, und betont die Schwäche Jesu. Es handelt sich bei den Äußerungen Terramers weitgehend um in der Zeit gängige Standardargumente, die gegen den christlichen Glauben artikuliert wurden. Das Unverständnis für die Mysterien der christlichen Dogmatik diskreditiert im Grunde schon Terramers Argumentation, er kann kaum angemessen auf Gyburgs Aussagen reagieren, deren überlegene Sichtweise mehr als deutlich zu Tage tritt.

Die Rede im Fürstenrat — die Toleranzrede

Wir machen einen Sprung. Nach dem Festmahl, vor dem Aufbruch zur zweiten Schlacht wird eine Fürstenversammlung einberufen. Zum Hintergrund ist anzumerken, dass Willehalm die französischen Fürsten geladen hatte. Er hält zu Beginn eine Rede, die die Heerführer zum Kampf anstacheln soll. Er berichtet von Greueltaten der Heiden. Es handelt sich, dies zu betonen ist wichtig, um eine Hassrede. Danach ergreifen andere Fürsten das Wort. Das Fazit des Erzählers lautet: „Rache stand wider Rache“ (W 305, 30). In dieser Stimmung ergreift Gyburg das Wort und hält eine der längsten Reden des gesamten Werkes (W 306, 3–310, 29). Sie ruft Gott als Zeugen, er möge es vergelten, wenn sie am großen Sterben schuldig sei.

Es scheint sich zunächst nichts zu ändern, Gyburg fordert von den französischen Fürsten den Kampf für das Ansehen des Christentums und Rache für den Tod von Vivianz, ihren Ziehsohn, an ihren Verwandten, vor deren Gegenwehr sie geradezu warnt. Der Tenor der vorangegangenen Reden scheint sich fortzusetzen:

die roemischen vürsten ich hie man,

daz ir *kristenlîch êret mêret.

ob iuch got sô verre *gêret,

daz ir mit strîte ûf Alischanz

rechet den jungen Vivianz

an mînen mâgen und an ir her

(die vindet ir mit grôzer wer),
(W 306, 18–24)

,Die römischen Fürsten hier ermahn ich:

mehrt das Ansehn des Christentums!

Erweist Gott die Ehre,

daß ihr im Kampf auf Alischanz

rächt den jungen Vivianz

an meinen Verwandten und ihrem Heer

(ihr werdet sie wehrhaft finden),ʻ

Dann aber die Wende:

und ob der heiden schumpfentiur ergê,

sô tuot, daz saelekeit wol stê:

hoeret eines tumben wîbes rât,

schônet der gotes hantgetât!

ein heiden was der êrste man,

den got machen began.
(W 306, 25–30)

,und wenn die Heiden unterliegen,

dann handelt so, wie es das Heil des Christentums

erfordert! Hört auf die Lehre einer ungelehrten Frau:

schont die Geschöpfe aus Gottes Hand!

Ein Heide war der erste Mensch,

den Gott erschuf.ʻ

Das zweite Zitat birgt bereits eine ganze Reihe wichtiger Gedanken, die in der Forschung für viel Diskussion sorgten. Gyburg geht von dem Fall aus, dass die Heiden im Kampf unterliegen. Was sie im Folgenden ausführt, steht also unter der Voraussetzung, dass die Christen als Sieger aus der Schlacht hervorgehen. Gyburg stellt das, was sie vorzutragen gedenkt, aber zusätzlich unter eine Maxime, denn sie unterstellt, dass das Befolgen ihrer Ausführungen das Heil des Christentums mit sich bringt. Den unterschiedlichen Interpretationen des angesprochenen Verses (W 306, 27) scheint gemeinsam, dass es bei dieser Aufforderung darum geht, dass die Christen sich als solche erweisen, sei es nun, um damit Gott zu ehren oder ihr eigenes Seelenheil nicht zu gefährden.

Bevor sie darauf eingeht, worin die entsprechende Handlungsweise besteht, kommt es zu einer viel beachteten Selbsteinschätzung Gyburgs: hoeret eines tumben wîbes rât (,hört auf die Lehre einer ungelehrten Frau:ʼ; W 306, 27). Die „ungelehrte“ Frau wird im Folgenden theologisch argumentieren, und zwar auf der Höhe des theologischen Diskurses der Zeit! Eine unterschiedlich beantwortete Frage ist, wie tump übersetzt werden sollte, „ungelehrt“ ist nur eine Möglichkeit, alternativ wurden vorgeschlagen „unerfahren, schlicht, schwach“, diese Übertragungen würden gut zum allgemein negativen Frauenbild der Zeit passen. Die Übersetzung „ungelehrt“ fokussiert dagegen deutlich den Kontrast zwischen der Aussage und dem, was an Ausführungen folgt. Ob darin auch ein Zeugnis laikalen Selbstbewusstseins gesehen werden muss, sei dahingestellt, wichtiger ist die Absicht, die Wolfram mit der Formulierung verband. Es ging Wolfram wohl darum, sich gegen theologische Kritik abzusichern. Das bedeutet, es handelt sich also um eine Form des Selbstschutzes. Was allerdings neben all diesen Erwägungen nicht außer Acht geraten sollte, ist die bereits formulierte Feststellung, dass sich das Nachfolgende auf der Höhe der theologischen Diskussion der Zeit bewegte. Damit kann auf die Bildung des Autors geschlossen werden, und es ergibt sich erneut ein Rückverweis auf die Ausführungen zu Wolfram und seiner Selbstdarstellung.

Unmittelbar an die Aussage zu ihrer Person schließt sich das berühmte „Schonungsgebot“ an: schônet der gotes hantgetât (,schont die Geschöpfe aus Gottes Handʼ; W 306, 28). Das Schonen angesichts der unmittelbar bevorstehenden, kriegerischen Auseinandersetzung darf nicht als Aufruf zum Pazifismus missverstanden werden. Dies belegen allein schon die davorliegenden Äußerungen. Was Gyburg jetzt formuliert, steht, wie bereits gesagt, unter der Voraussetzung, dass die Heiden im Kampf unterliegen! Es geht also um das Verhalten während, mehr noch aber nach dem Kampf. Gemäß der Kreuzzugsideologie galt es, die Heiden niederzumetzeln, abzuschlachten wie Vieh, ohne jegliche Rücksicht, wie es etwa im schon erwähnten ,Rolandsliedʼ dargestellt wird. Genau dies will Gyburg aber verhindern. Das Nachfolgende, dies gilt es unbedingt zu beachten, bezieht sich auf die Zeit nach der Schlacht. Es geht dementsprechend um die Vermeidung unnötiger Grausamkeiten und die Tötung von schon Besiegten, in anderen Worten um die Verhältnismäßigkeit. Es sei an dieser Stelle darauf hingewiesen, dass diese Forderung eigentlich ein Teil des ritterlichen Verhaltenskodexes ist, der aber hier weder angesprochen wird noch für die Kämpfe gegen die Heiden zu gelten scheint. Daher verweist Gyburg darauf, dass auch die Heiden Geschöpfe aus der Hand Gottes sind. Da alle Wesen aus dessen Hand stammen, kann das auch durch die katholische Lehre nicht angezweifelt werden.

Gyburgs Hinweis will aber mehr besagen als diese Banalität, sie scheint mit ihrer Aussage auf die Sonderstellung der Menschen innerhalb der Schöpfung anzuspielen. Gott schuf den ersten Menschen mit seinen Händen. In der Forschung wurde darauf hingewiesen, dass dieses „mit seinen Händen“ einen Unterschied zum Rest der Schöpfung ausmacht, denn sonst schuf Gott durch Befehle: er sprach, es werde (…). Wird unterstellt, dass dies den Rezipienten bewusst war, könnte weiter argumentiert werden, dass das Töten eines Menschen ein gegen Gott gerichteter Frevel ist. Zumindest dieser Gedanke war, wenngleich die ihm zu Grunde liegende Feststellung bezüglich der Divergenz im Schöpfungsbericht eher nicht in der angenommenen Weise präsent gewesen sein dürfte, bei den Rezipienten durch die 10 Gebote sicher verankert, dass dieser Gedanke im Folgenden geschickt auf die Heiden ausgedehnt wird, darf und sollte durchaus als eine Erweiterung dieser Vorstellung gewertet werden. Die Aussage jedoch, dass der erste Mensch, Adam, den Gott schuf, ein Heide war, kann die Bedenken hinsichtlich der gedanklichen Präsenz der Unterscheidung durch Befehl erschaffen versus durch die Hände auf Seiten der Rezipienten, nicht aus dem Weg räumen. Die Anmerkung, dass das zu beobachtende Vorgehen als geschickt zu bezeichnen ist, bezieht sich darauf, dass die Argumentation Gyburgs so aufgebaut ist, dass sie zumindest zunächst keinen Widerspruch erlaubt. Mit der Feststellung, dass Adam Heide war, beginnt Gyburg eine Aufzählung alttestamentarischer Gestalten, die nach christlicher Auffassung Heiden waren.

Nach Adam werden genannt: Elias und Enoch, die, was sich als wichtig erweisen wird, stets zusammen Erwähnung finden, Noah, der Erbauer der Arche, Hiob und schließlich die Heiligen Drei Könige, Kaspar, Melchior, Balthasar. Im Text wird Balthasân (W 307, 9) verwendet, was auffällig aber durch die Überlieferung gesichert ist. Die Auswahl scheint sich bewusst an der im Mittelalter geläufigen Dreiteilung der Menschen in Heiden, Juden, Christen zu orientieren. Dies anzunehmen, erlauben die weiteren Ausführungen Gyburgs. Mit Abraham beginnt der ‚Alte Bund‘ zwischen Gott und dem von ihm erwählten Volk, signifikantes Merkmal für das mit Abraham beginnende Judentum ist die Beschneidung, auf die noch einzugehen sein wird. Einen kleinen Makel hat der Hinweis auf die Dreiteilung jedoch, denn Elias ist Jude. Dieser, wenn es so zu nennen ist, Fehler basiert höchstwahrscheinlich auf dem angesprochenen Usus, Elias und Enoch stets gemeinsam zu nennen, ein Reflex ihrer Funktion als Bekämpfer des Antichristen, sie sollen die Menschen auch vor ihm warnen. Eine Sonderstellung nehmen sicher auch Kaspar, Melchior und Balthasar ein, deren Gaben got (W 307, 12) an der Brust der Mutter empfing. All das, was sie anführte, kann, so schlussfolgert Gyburg, nur bedeuten, dass nicht alle Heiden verdammt sind:

got selb enpfie mit sîner hant

die êrsten gâbe ane muoter brust

von in. die heiden hin zer vluht

sint alle niht benennet.
(W 307 12–15).

,Mit seiner Hand nahm Gott

noch an der Mutterbrust die ersten Gaben

an von ihnen. Nicht alle Heiden

sind verdammt.ʻ

Aber damit nicht genug, im nächsten Argumentationsschritt rückt Gyburg näher in das Umfeld der Rezipienten, denn sie fährt fort, indem sie auf die christlichen Mütter eingeht, die ungeachtet der Tatsache, dass sie Christinnen sind, seit Evas Zeiten ein heidnisches Kind gebären (W 307, 17–22). Ohne Taufe ist der Säugling ein Heide. Die Frage ist, sind diese Säuglinge verdammt? Aus dem Text ließe sich auf die Feststellung verweisen, dass nicht alle Heiden verdammt sind. Gilt diese Feststellung nur für die Gestalten, die vor dieser Aussage von ihr erwähnt wurden oder auch für die danach angesprochenen Säuglinge? Die zuletzt angeführte Auffassung erscheint überaus wahrscheinlich und würde auch der Lehrmeinung entsprechen, dass den ungetauften Säuglingen, obwohl sie Heiden sind, durch die christliche Mutter Gnade vermittelt wird. Es wurde bereits auf die Dreiteilung der Menschen (Heiden – Juden – Christen) hingewiesen, auf die Gyburg oben implizit rekurriert. Diese wird nun manifest. Gyburg thematisiert die „andere Taufe“ der Juden, die Beschneidung, die der verbreiteten theologischen Lehrmeinung gemäß als Parallele zur christlichen Taufe aufzufassen ist.

Was bisher an Aussagen angesprochen und analysiert wurde, ist aus theologischer Sicht durchaus anspruchsvoll und zeugt von gründlichen Kenntnissen seitens des Autors, aber es handelt sich gleichwohl um Ausführungen, die von Theologen im Grunde nicht angegriffen werden können, sie fußen auf den theologischen Lehrmeinungen der Zeit. Für die folgenden Verse gilt dies aber möglicherweise nicht. Die nachfolgend zitierte Textstelle wurde vielfach und vor allem auf unterschiedliche Weise analysiert bzw. interpretiert:

dem saeldehaften tuot vil wê,

ob von dem vater sîniu kint

hin zer vlust benennet sint:

er mac sich erbarmen über sie,

der rehte erbarmekeit truoc ie.
(W 307, 26–30)

,Wer im Heil ist, leidet

unter dem Gedanken, daß der Vater seine Kinder

zum Verlust der Seligkeit verdammt:

es steht in seiner Macht, sich ihrer zu erbarmen,

der zu allen Zeiten wahre Barmherzigkeit besaß.ʻ

Den Kern der wissenschaftlichen Auseinandersetzung liefert die Formulierung „der Vater seine Kinder“ (W 307, 27). Es gibt eine teilweise fast sophistisch zu nennende Forschungsdiskussion um zwei Wörter bzw. deren Interpretation: Vater und Kinder. In welchem Sinne ist von Vater die Rede, wer ist gemeint? Wer sind die Kinder, wie ist ihr Verhältnis zum – wie auch immer zu deutenden – Vater?

Die erste grundsätzliche Frage, die mit Bezug auf das Wort Vater aufgeworfen wurde, lautet: Handelt es sich um einen menschlichen Vater, sei er heidnisch, jüdisch oder christlich? Eine Erörterung dieser These erscheint aus theologischer Sicht kaum interessant. Anzunehmen, dass statt von Gott nun plötzlich von einem Menschen in der Position des Vaters gesprochen wird, darf als wenig plausibel eingestuft werden, weshalb diesem Gedanken auch keine weitere Aufmerksamkeit geschenkt werden soll. Es sollte davon ausgegangen werden, dass mit Vater der christliche Gott gemeint ist. Vor dem Hintergrund dieser Grundannahme lassen sich hinsichtlich der Interpretation zwei gegensätzliche Ausrichtungen festlegen: Die erste versucht, Gyburgs Aussagen so zu interpretieren, dass sie vom theologischen Standpunkt aus betrachtet unbedenklich, unangreifbar, aus kirchlicher Sicht also korrekt sind; die zweite nimmt auf diesen Aspekt keine Rücksicht.

Eine Interpretation im Sinne der zuerst angesprochenen Position geht von der Annahme aus, dass gotes hantgetât (W 306, 28) und kint (W 308, 27) zwei verschiedene Personengruppen meinen. Während gotes hantgetât alle Menschen einschließt, soll es sich bei kint um einen engeren Kreis handeln. Mit kint seien nur die Kinder von Christen gemeint, die vor der Taufe starben. Wenn diese tatsächlich zur Verdammnis bestimmt sein sollten, wäre das für die Christen ein wahrhaft schmerzlicher Gedanke, wobei die folgenden Verse die grundsätzliche Möglichkeit der Rettung durch göttliches Erbarmen als Möglichkeit nennen. Auch der Interpretationsansatz, Gyburg würde mit ihren Ausführungen die Möglichkeit ins Spiel bringen, dass Gott durch die Macht seiner wahren Barmherzigkeit in der Lage ist, Heiden zu Einsicht und Bekehrung zu führen, kann angesichts des Endes des Werkes, das gerade nicht die Bekehrung der Heiden thematisiert, kaum überzeugen.

Eine geradezu sophistisch zu nennende Interpretation (siehe den obigen Hinweis), die jeglichen Sinn für die Rezipienten und die Rezeptionssituation vermissen lässt, unterstellt, dass Gyburg zwar unbedenklich vom Vater aller Menschen, sogar aller Dinge sprechen konnte, dies aber nur im Sinne des Schöpfers, wohingegen Vater im eigentlichen Wortsinn an der hier zu interpretierenden Textstelle ausschließlich auf die Vaterschaft für die Christen zu beziehen sei. Auch wenn sich diese Differenzierung biblisch und durch Texte zeitgenössischer Exegeten untermauern lässt, bleibt die Frage, um die es ja eigentlich gehen sollte, hat Wolfram diesen Gedankengang intendiert, und mehr noch, wurde er von seinen Rezipienten so verstanden? Die Antwort auf diese Fragen kann nur negativ ausfallen. Auch die auf dieser Interpretation aufbauende Aussage, dass der Wortlaut des Textes keinen Anhaltspunkt dafür bietet, dass statt einer Hoffnung auf Bekehrung eine Hoffnung auf Erlösung in den Raum gestellt wird, missachtet das Verhalten Willehalms am Ende des unvollendeten Werkes, denn es geht ganz offenkundig nicht um Bekehrung! Willehalm gestattet, dass die getöteten heidnischen Könige, dies wurde oben schon angesprochen, nach heidnischem Ritus bestattet werden, und er lässt darüber hinaus die noch lebenden Heiden abziehen, statt sie, wie es gemäß der Kreuzzugsideologie zu erwarten wäre, niederzumetzeln oder zu zwingen, den christlichen Glauben anzunehmen. Es geht im ,Willehalmʻ nicht um Missionierung oder um Bekehrung, ob Willehalm seinen heidnischen Verwandten und weitergehend den Heiden allgemein die Erlösung wünscht, diese für sie als Möglichkeit in Betracht zieht, ist damit allerdings nicht gesagt. Hinzuweisen ist in diesem Zusammenhang noch darauf, dass in der volkssprachigen Literatur, wenngleich etwas später, durchaus davon die Rede ist, dass Gott dreierlei Kinder hat: Christen, Juden und Heiden!

Der zweite angesprochene Interpretationsansatz geht davon aus, dass mit Vater Gott gemeint ist und mit den Kindern alle Menschen. Dementsprechend scheint Gyburg die Gotteskindschaft auch für die Heiden in Anspruch zu nehmen. Das bedeutet, dass auch für die Heiden zumindest eine potenzielle Erlösbarkeit unterstellt wird, das wäre eine Parallele zu ihren Ausführungen zu gotes hantgetât. Grundlage der Erlösbarkeit ist dabei die Menschwerdung Christi und die mit ihr verbundene Erlösung der Menschen. Dazu gehört auch die bereits angesprochene Macht der immerwährenden Barmherzigkeit. Die Unterscheidung, dies ist implizit schon angeklungen, zwischen gotes hantgetât und kint wird durch sie hinfällig. Wird diese Interpretation zu Grunde gelegt, dann verlässt Gyburg mit ihren Äußerungen den Boden der kirchlichen Lehre, was sie sagt, wird angreifbar. Die allgemein akzeptierte Auffassung, dass Wolfram Gyburg sagen lässt, dass das Nachfolgende der Rat einer ungelehrten oder törichten Frau sei, um sich vor Kritik vielleicht sogar Schlimmerem zu schützen, geht ins Leere, wenn Wolframs Darstellung sich auf theologisch, kirchlich abgesichertem Terrain bewegt, das er, wie mehrfach betont, kennt. Die mit dieser Festlegung verbundenen Ansätze sind zwar denkbar insgesamt aber wenig befriedigend. Das wird anders, wenn, wie gerade geschehen, davon ausgegangen wird, dass Gyburgs Aussagen nicht mehr auf dem Boden einer theologisch korrekten Darstellung fußen. Es sollte also davon ausgegangen werden, dass „Vater“ tatsächlich als Vater aller Menschen zu interpretieren ist.

Der folgende Aspekt, den Gyburg anspricht, fällt aus dem Rahmen, denn er hat keinerlei Beziehung zu den vorangehenden Ausführungen. Es geht um die Existenz und die Stellung des zehnten Engelschors, der durch die Anmaßung Luzifers, der Gott gleich sein wollte, gestürzt wurde. Der Fall der Engel war der Grund für die Erschaffung der Menschen, sie ersetzen den Engelschor. Die Darstellung entspricht einer langen Tradition, sie ist in der deutschsprachigen geistlichen Literatur und sogar in Predigten vor Wolframs Zeiten gut belegt. Einzig eine kleine Brücke lässt sich herstellen, die, wie es die Formulierung nahelegt, vielleicht gar nicht wirklich auffällt, weil es zwar um das Erbarmen Gottes geht, aber die Gedanken betreffen nicht die Möglichkeit der Erlösung von Heiden.

Die angedeutete Berührung mit dem zuvor Gesagten, mehr noch aber mit dem Folgenden ergibt sich durch den Hinweis auf das Erbarmen, genauer die Vergebung, auf die die Menschen hoffen dürfen:

beidiu in den gotes haz:

wie kumt, daz nû der mennisch baz

dan der Engel gedinget?

mîn munt daz maere bringet:

der mennisch wart durh rât verlorn,

der engel hât sich selb erkorn

zer êwigen vlüste

mit sîner âküste

und alle, die im gestuonden,

die selbe riuwe vunden.
(W 308, 15–24).

,Mensch und Engel hatten sich

gleichermaßen Gottes Feindschaft zugezogen:

wie kommt es, dass der Mensch nun

auf Vergebung hoffen darf, der Engel nicht?

Ich will es sagen:

der Mensch ist einem bösen Rat erlegen,

der Engel hat sich selbst aus eignem Antrieb

in den ewigen Tod gegeben

mit seiner Hinterlist,

und allen, die es mit ihm hielten,

gingʼs genau so schlecht.ʻ

Auch an dieser Stelle spielt die Erlösbarkeit der Menschen die zentrale Rolle, denn es wird die Frage gestellt, warum die Menschen auf das Erbarmen Gottes hoffen dürfen, die Engel des zehnten Chores, der von Gott verbannt wurde, aber nicht. Der Unterschied, auf den hingewiesen wird, soll die Haltung Gottes verständlich machen. Er besteht darin, dass die Menschen sich verführen ließen, wohingegen die Engel des zehnten Chores aus eigenem Antrieb handelten, sie beschlossen von sich aus, sich gegen Gott aufzulehnen. Aus Eifersucht und Neid, umschleichen deshalb die gefallenen Engel des zehnten Chores die Menschen, um sie zu verführen, in Sünden zu verstricken. Genau diese Verführung ist es aber, weshalb die Menschen auf Vergebung hoffen dürfen. Um den Aspekt der Vergebung, wenngleich auf einer anderen Ebene, geht es dann in den weiteren Ausführungen Gyburgs.

Gyburg kehrt zum zentralen Gedanken ihrer Ausführungen zurück und widmet sich wieder der Auseinandersetzung zwischen den Christen und den Heiden sowie den Folgen, sollten die Heiden unterliegen:

swaz iu die heiden hânt getân,

ir sult si doch geniezen lân,

daz got selbe ûf die verkôs,

von den er den lîp verlôs.

ob iu got sigenunft dort gît,

*lât ez iu erbarmen ime strît!

sîn werdeclîchez leben bôt

vür die schuldehaften an den tôt

unser vater Tetragramatôn.

sus gap er sînen kinden lôn

ir vergezzenlîcher sinne.

sîn erbarmede rîchiu minne

elliu wunder gar besliuzet,

des triuwe niht verdriuzet,

sine trage die helfeclîche hant,

diu bêde wazzer unde lant

vil künsteclîch alrêst entwarf,

und des al diu krêatiure bedarf,

die der himel umbesweifet hât.
(W 309, 1–19).

,Was euch die Heiden Schlimmes taten,

laßt ihnen doch zugute kommen,

daß Gott selbst bereit war,

seinen Mördern zu vergeben.

Wenn Gott euch dort den Sieg gewährt,

habt im Kampf Erbarmen!

Sein hohes Leben opferte

für die Schuldbeladenen

unser Vater Tetragramaton.

So hat er seinen Kindern

vergolten, daß sie ihn vergaßen.

Sein liebendes Erbarmen

kann jedes Wunder wirken,

in seiner treuen Liebe

hält er stets die Hand zur Hilfe hin,

die Wasser und Erde

kunstreich erschuf

und alles, was die Geschöpfe brauchen,

Die der Himmel umgibt,ʻ

Die Bibel besagt, dass Christus am Kreuz den Vater darum bat, seinen Mördern zu vergeben. Diese Mörder sind einerseits die Juden als Ankläger, aber auch Heiden, denn die Römer, die das Urteil vollstreckten waren Heiden. Das bedeutet, Christus bittet um Vergebung für Juden und Heiden. Das scheint ein weiteres Indiz dafür, dass oben mit kint auch die Heiden gemeint sind. Christus opfert sich, damit den Menschen ihre Sünden vergeben werden. Alle Menschen sind Sünder, alle Menschen sind erlösungsbedürftig und allen Menschen kann vergeben werden, weil Christus am Kreuz darum bittet.

Hinzuweisen ist noch auf die Bezeichnung Tetragramaton, griechisch für „das aus vier Buchstaben Bestehende“, ein Hinweis auf den Eigennamen Gottes, der im Hebräischen aus vier Buchstaben besteht: JHWH für „Jahweh“. Gott hat vergeben, obwohl die Menschen sündigten, ihn vergaßen, die Sünden ins Unermessliche wuchsen. Für den Gott, der, obwohl selbst ohne Schuld, für die Sünden der Menschen stirbt und dennoch um Vergebung für sie bittet, ist alles möglich und denkbar. Er reicht seine Hand, er kann durch seine Liebe jedes Wunder bewirken. Auch diese Textstelle legt die oben ausgeführte Interpretation nahe. Die Vergebung als Erlösung selbst für die Mörder kann doch eigentlich nur bedeuten, dass das liebende Erbarmen, die Erlösung der Heiden zumindest in Betracht zieht, sie also denkbar ist!

Da es in mittelalterlichen Texten keine Interpunktion gibt, stellt sich grundsätzlich die Frage, wo Satzzeichen in einen Text einzufügen sind und welche. Es wurde in der Forschung diese Frage in Bezug darauf aufgeworfen und unterschiedlich beantwortet, ob nach dem Vers: sine trage die helfeclîche hant, (,hält er stets die Hand zur Hilfe hin,ʻ; W 309, 15), wie es in der benutzten Ausgabe (siehe Literaturverzeichnis) geschieht, das Zitat zeigt es, ein Komma gesetzt werden soll. Daneben gibt es die Ansicht, dass nach dem Vers ein Punkt zu setzen ist. Analog dazu und im Zusammenhang damit wird dieselbe Frage für das Ende des Verses gestellt: die der himel umbesweifet hât (,die der Himmel umgibt.ʼ; W 309, 19). Diejenigen, die dafür plädieren, nach Vers W 309, 15 ein Komma einzufügen, wählen nach Vers W 309, 19 einen Punkt bzw. umgekehrt. Das hat zwar Konsequenzen für eine detaillierte Interpretation der Textstelle, für die vorliegende Studie ist eine Entscheidung in dieser Frage von eher untergeordneter Bedeutung, weshalb ein näheres Eingehen darauf nicht notwendig erscheint. Es genügt, die Quintessenz der Textstelle festzuhalten, die von der unterschiedlichen Zeichensetzung weitestgehend unberührt bleibt und darin besteht, dass es einmal mehr um die Darstellung der Allmacht Gottes geht.

Gegen Ende ihrer Rede betont Gyburg noch einmal, dass sie sich bewusst von Tervagant und Mohammed abwendete, und „der kunstreichen Hand“ (W 310, 1), dem christlichen Gott und dem christlichen Glauben zuwandte. Das trug ihr den Hass beider ein, der Christen wie der Heiden, weil sie alle fälschlicherweise glauben, dass sie aus Liebe zu einem Menschen den Krieg verursacht habe. Die von Gybrug gewählte Formulierung menneschlîcher minne (,für Sinnenlustʼ; W 310, 7) wird in der Ausgabe, wie die Übersetzung belegt, mit Sinnenlust übersetzt und entsprechend negativ ausgelegt. Gyburgs Aussage und damit ihre Beziehung zu Willehalm auf den sexuellen Aspekt zu reduzieren, gibt der Text nicht her, das dürfte auch den Rezipienten mehr als deutlich sein, dass sowohl die Christen als auch die Heiden Gyburg wegen ihrer Liebe zu Willehalm hassen, lässt sich an Hand des Wortlauts des Textes im Grunde ebenfalls nicht nachweisen. Es handelt sich um eine eklatante Herabwürdigung der Gestalt und es darf füglich bezweifelt werden, dass eine solche tatsächlich intendiert war. Das belegen der Exkurs, auf den oben eingegangen und in dem Gyburg als schuldlos bezeichnet wurde, weil sie, was sie tat, für Gott tat, und in eindeutiger Weise die folgenden Ausführungen Gyburgs.

Das sich anschließende Bekenntnis wirkt vor dem Hintergrund der Tatsache, dass Gyburg sich nach eigenem Bekunden von ihrem Glauben und von ihrer Familie lossagte, zunächst fast ein bisschen überraschend:

dêswâr, ich liez ouch minne dort

und grôzer rîcheit manegen hort

und schoeniu kint, bî einem man,

an dem ich niht geprüeven kan,

daz er kein untât ie begienc,

sît ich krône von im enpfienc.
(W 310, 9–14).

,Wahr ist: ich ließ auch Liebe dort

und großen Reichtum,

schöne Kinder von einem Mann,

von dem ich nicht sehen kann,

daß er jemals Böses tat,

seit ich die Krone von ihm empfing.ʻ

Gyburg übernimmt die Verantwortung für die Trennung von ihrer Familie, die sie liebte, auch ihrem Ehemann kann sie, wie sie ausführlich darlegt, keinerlei Vorwürfe machen. All dies unterstreicht aber – bei genauerer Betrachtung – nur die Intensität der Liebe zu Willehalm und zum christlichen Gott:

Tîbalt von Arabî

ist von aller untaete vrî:

ich trag al eine die schulde

durh des hoehisten hulde,

ein teil ouch durh den markîs
(W 310, 15–19).

,Tibalt von Arabi

ist ohne jeden Fehl:

ich trag allein die Schuld,

es ging mir um des Höchsten Huld

– und auch um den Marquis,ʻ

Gyburg wählte bewusst einen neuen Weg trotz der Gefühle, die sie für ihre Familie besaß. Das Bekenntnis spricht aber nicht nur, wie schon erwähnt, für die Intensität der Gefühle Gyburgs, es dokumentiert und unterstreicht – auch gegenüber den Ausführungen Gyburgs während des Religionsgesprächs – eine höher zu bewertende Haltung, denn sie bringt eine überlegene, bewusste Entscheidung zum Ausdruck, eben weil Gyburg eingesteht, dass sie durchaus vorhandene Gefühle zu überwinden hatte.

Es wurde beim Inhaltsabriss darauf hingewiesen, dass Gyburg am Beginn des IX., nicht mehr vollendeten, Buches als Heilige angesprochen wird. Dies geschieht in einer prologartigen Sequenz. Der Erzähler ruft Gyburg an:

Ei Giburc, heilic vrouwe,

dîn saelde mir die schouwe

noch vüege, daz ich dich gesehe,

aldâ mîn sêle ruowe jehe.

durh dînen prîs, den süezen,

wil ich noch vürbaz grüezen

dich selben und die dich werten,
(W 403, 1–7).

,Heilige Giburg, Herrin,

deine Seligkeit erwirke mir

dereinst den Anblick: dich zu sehn,

wo meine Seele Ruhe findet.

Zum Ruhme deiner Heiligkeit

will ich dich weiter preisen

und die, die für dich kämpftenʻ

Es ist unbenommen, dass Gyburg realhistorisch gesehen keine Heilige ist, sie ist es textintern und durch die Aussage des Erzählers. Diese Feststellung bedarf keiner weiteren Diskussion, die Frage muss lauten, warum wird Gyburg zur fiktionalen Heiligen stilisiert. Am Anfang des Werkes wurde Willehalm als Heiliger eingeführt, allerdings stimmt dies mit der Realität überein, jedenfalls dann, woran im Grunde kein Zweifel besteht, wenn die historische Gestalt, die hinter der literarischen steht, als Guillaume d’Orange richtig identifiziert wird. Dieser galt tatsächlich als Heiliger. Als Erklärung heranzuziehen, dass dem Heiligen eine Heilige als Ehepartnerin zur Seite gestellt werden sollte, erscheint zu banal.

Es ist vielleicht ein gewagt anmutender Gedankensprung, aber es kommt doch die Erinnerung an die eigene Einschätzung Gyburgs in den Sinn, die sich als ungelehrte Frau bezeichnete. Sicher muss eine Heilige nicht gelehrt sein, aber erhält das, was Gyburg äußerte, dadurch, dass sie nun als Heilige angerufen wird, nicht einen anderen Stellenwert, wird nicht – gewissermaßen im Nachhinein – das, was sie im Verlauf der Rede im Fürstenrat sagte, letztlich doch aufgewertet. Das würde bedeuten, dass Wolfram die mit der Aussage verbundene Absicht, sich vor Kritik zu schützen, torpediert, sogar aufhebt. Sicher eine Kehrtwende – es wäre aber nicht die einzige in Wolframs dichterischem Schaffen, insofern ist der Hinweis darauf nicht wirklich dazu geeignet, den Gedanken zurückzuweisen. Es ist auch nicht auszuschließen, dass Wolfram die Absicht, Gyburg und damit auch ihre Aussagen im Nachhinein aufzuwerten, schon im Sinn hatte, als er Gyburg sagen ließ, sie sei eine ungelehrte Frau. Wie gesagt, ein Gedankensprung oder besser ein Gedankenspiel, dass es eine solche Intention bei Wolfram gab, lässt sich nicht belegen.

Fazit

Die vorangegangenen Ausführungen sollten die unterschiedlichen Rollen Gyburgs zumindest kurz anreißen, mehr noch aber ihren “Werdegang“. Sie wurde, um es noch einmal in Stichworte zu fassen und wenigstens einige zentrale Aspekte aufzugreifen, als konvertierte Heidin, zur liebevollen christlichen Ehepartnerin und Verteidigerin des christlichen Glaubens, handfest als Kämpferin für diesen, wichtiger aber, im Religionsgespräch mit ihrem Vater. Dies ist allein schon eine enorme Steigerung der Bedeutung der Gestalt, doch damit ist Gyburg längst nicht am Ende ihrer Wertsteigerung. Sie hält eine Rede im Fürstenrat, die vor dem Hintergrund ihrer Position als Frau aber auch inhaltlich mehr als nur bemerkenswert ist und, nach der vorgeschlagenen Interpretation, den Boden der von der Kirche sanktionierten Lehren verlässt. Als Gipfelpunkt wird sie schließlich als Heilige angerufen.

Losgelöst von der Figur Gyburg und ihrer Gestaltung gilt es als historischen Hintergrund des Werkes die Kreuzzugsbewegung und damit verbunden die Kreuzzugsideologie zu berücksichtigen. Es ist schon angeklungen, dass gemäß der einschlägigen Kreuzzugsideologie eine Schonung von Heiden, wie sie von Gyburg gefordert und von Willehalm im Grunde nach der zweiten Schlacht praktiziert wurde, nicht in Betracht kommt, eher galt es, die Heiden zu vernichten, auszumerzen, es sei denn, dass sie sich zum Christentum bekehrten. Es gab zwar an dieser Haltung, wie überhaupt an der Kreuzzugsbewegung, schon früh Kritik, aber diese wurde, wie die Geschichte belegt, von päpstlicher Seite nicht sonderlich ernst genommen. Schon die verheerende Niederlage des christlichen Heeres beim zweiten Kreuzzug ungefähr Mitte des 12. Jahrhunderts, aber auch der als sinnlos betrachtete Tod Friedrichs I., der zum Kreuzzug aufgebrochen war, aber das Heilige Land gar nicht erreichte, waren Auslöser die Sinnhaftigkeit der Kreuzzugsunternehmungen zu hinterfragen, besonders gilt dies auch für die geradezu programmatisch gewordene Aussage Papst Urbans II., mit der er zum ersten Kreuzzug aufrief: Deus lo vult! (Gott will es!)

Das Zusammenleben von Muslimen und den Christen, die im Heiligen Land bzw. den angrenzenden Grafschaften und Fürstentümern, die von Christen beherrscht wurden, blieben, bedarf keiner genaueren Betrachtung, da fraglich ist, ob dieses für das Denken im Reich eine Rolle gespielt hat. Immerhin sei erwähnt, dass es vielerorts eine friedliche Koexistenz gab, Christen und Muslime teilweise ein vertrauensvolles Miteinander pflegten.

Die Auseinandersetzungen zwischen Friedrich II. und den Päpsten Honorius III. später Gregor IX. wegen des Kreuzzugsversprechens Friedrichs II. dürften im Deutschen Reich weithin bekannt gewesen sein. Die Eskalation dieses Streits, die schließlich zur Exkommunizierung Friedrichs II. durch Papst Gregor IX. führte, kann, wie eingangs bereits ausgeführt, aus chronologischen Gründen keine Rolle spielen, denn sie fand erst 1227 statt. Es ist darüber hinaus in Erinnerung zu rufen, dass die Haltung Friedrichs II. zur Kreuzzugsbewegung schon sehr viel früher dadurch deutlich wurde, dass er das Kreuzzugsvorhaben immer wieder verschob, weil es ihm offenkundig kein wirkliches Anliegen war. Auch an Friedrichs Haltung gegenüber Muslimen, das als von Toleranz geprägt eingestuft werden darf, gilt es zu erinnern. An seinem Hof herrschte eine fruchtbringende Koexistenz von Christen und Muslimen. Dies dürfte allgemein bekannt gewesen sein. Um den Kreis zu Wolfram auch an dieser Stelle zu schließen, ist der Mäzen Wolframs, Hermann von Thüringen, zu erwähnen. Hermann von Thüringen war Parteigänger Friedrichs II., er unterstützte diesen schon 1211, indem er sich dafür entschied, dessen Wahl zum König zu fördern. Was Friedrich II. tat und dachte, dürfte am Hof Hermanns zu dem, wie erwähnt, auch Wolfram zählte, bekannt gewesen sein. Später zählte, darauf sei nur hingewiesen, um die offenkundig lebendig bleibende Verbindung der Ludowinger zu Friedrich II. zu dokumentieren, Ludwig IV., der Sohn Hermanns, zu den nicht eben zahlreichen Unterstützern des erwähnten Kreuzzuges Friedrichs II. im Deutschen Reich. Als These ließe sich formulieren, dass der geschilderte politische Hintergrund auf das literarische Schaffen Wolframs einwirkte und zu dem am Ende des Werkes greifbaren Gedanken an eine friedliche Koexistenz von Christen und Muslimen führte. Dieser Gedanke soll abschließend im Hinblick auf die Rolle Gyburgs und das Ende des Werkes ein wenig weiterverfolgt werden.

Bereits das Zwischenfazit zu Gyburg belegte, dass Gyburg die zentrale Gestalt des Werkes ist. Dies gilt trotz der das Werk umfangmäßig bestimmenden Schlachtenschilderungen. Durch das Religionsgespräch, mehr noch durch die Rede im Fürstenrat wird die Bedeutung Gyburgs auf markante, für die damalige Zeit exzeptionelle, Weise gesteigert. Gyburg erlebt eine ungeheure Aufwertung. Dass Gyburg gegen Ende des Werkes sogar als Heilige tituliert wird, erscheint fast wie eine folgerichtige Konsequenz.

Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang ihre Äußerung dêswâr, ich liez ouch minne dort (,Wahr ist, ich ließ auch Liebe dortʼ; W 310, 9). Diesem Bekenntnis zu ihrer heidnischen Vergangenheit wurde in der Forschung bisher vielleicht zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt, obwohl Gyburg hier doch ihr Heidentum nicht nur nicht verleugnet, sondern offenbar als integralen Bestandteil ihrer Persönlichkeit zu akzeptieren scheint. Dies offenbart eine reflektierte, überlegene Position, sogar gegenüber ihrer Haltung im Religionsgespräch, in dem Gyburg eine eher distanzierte Haltung einnimmt und sie ausschließlich die Überlegenheit des christlichen Glaubens aufzeigen will. Diese Position scheint überwunden. Wenn die zitierte Aussage in Verbindung mit der Aufforderung zur Schonung der Heiden gesehen wird, ließe sich formulieren, dass Gyburg das Heidentum, das sie hinter sich ließ, nun für sich toleriert und für sich Frieden damit geschlossen hat. Möglicherweise kann Gyburg als eine Art Manifestation der Möglichkeit der friedlichen Koexistenz gesehen werden. Die angesprochene Aufforderung zur Schonung der Heiden lässt sich so als Aufforderung zur friedlichen Koexistenz auch der Glaubensrichtungen werten. Ist Willehalms Verhalten am Ende des Werkes als Reflex dieses Gedankens zu interpretieren, handelt er unter dem Einfluss der Rede und der mit ihr verbundenen Intention? Fragen, die letztlich offen bleiben müssen, eine bejahende Beantwortung liegt jedoch sehr nahe.

Wolfram unterbreitet seinen Rezipienten eine – nicht nur zu seiner Lebenszeit, sondern auch aus der Sicht der Gegenwart – utopische Vorstellung der friedlichen Koexistenz von Religionen. Mit dieser Feststellung ließe sich eine Rückkoppelung zu der Tatsache verbinden, dass das Werk unvollendet blieb. Sicher ist das überlieferte Ende nicht in dem Sinne zu interpretieren, dass Wolfram an der Stelle nicht hätte weiterschreiben können, grundsätzlich aber stellt sich durchaus de Frage: Wie hätte Wolfram wohl sein Werk enden lassen. Hätte er es um 1220 wagen können, eine friedliche Koexistenz von Christen und Heiden darzustellen, eine Frage, deren Beantwortung auch den Mäzen betroffen hätte. Zu bedenken ist dabei, dass die dem Werk innewohnende, tolerante Haltung ein Spezifikum war, sie darf nicht als allgemein anzutreffende Position angesehen werden. Das zeigt schon der Blick auf die Fortsetzung, also den Text, den Ulrich von Türheim als Ergänzung und Ende zu Wolframs unvollendetem Werk hinzudichtete. In diesem Text findet sich die Haltung der Kreuzzugspropaganda, die die Heiden grundsätzlich und rigoros abwertet und negativ beurteilt. Die Heiden und mithin das Heidentum sind rücksichtslos zu behandeln, das Heidentum nach Möglichkeit auszurotten.

So hat sich, dies darf wohl mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit formuliert werden, Wolfram das Ende seines ,Willehalmʼ bestimmt nicht vorgestellt. Dessen ungeachtet zeigt die Überlieferung, auf die noch kurz eingegangen werden wird, dass Wolfram seine Protagonistin eine Haltung formulieren lässt, die ebenso einzigartig und isoliert erscheint, wie das davon beeinflusste Handeln Willehalms am Ende des unvollendeten Werkes, denn das enorme und lang anhaltende Interesse am ,Willehalmʼ wurde nicht durch diese uns heute faszinierenden Aspekte ausgelöst. Diese Feststellung beruht nicht nur auf der Beobachtung, dass der Fortsetzer in alte Muster verfällt, sie wird auch dadurch gestützt, dass Wolframs Text, sofern er vollständig überliefert wurde, mit eben der Fortsetzung und der ihr innewohnenden, völlig anderen Haltung überliefert wurde. Auch sonst findet sich zu Wolframs Zeiten – gemäß der Überlieferung – kein literarischer Text, der eine ähnliche Haltung gegenüber den Heiden propagieren würde.

Textdynamik — ein Exkurs

Es dürfte durch die bisherigen Ausführungen deutlich geworden sein, dass der Text intern eine ungeheure Dynamik entwickelt, auf die nur kurz eingegangen werden soll. Im Wesentlichen soll aber ein grober Einblick in die Dynamik, die das Werk als solches entwickelte, gegeben werden.

Der Inhalt des Werkes zeigt eine ungewöhnlich ausgeprägte Dynamik, das gilt für die Handlungsebene ebenso wie für die Gestaltung des Protagonistenpaares. Aus einer Privatfehde wird ein Krieg auf Reichsebene. Der oberste Herrscher der Heiden kämpft gegen das Reichsheer, zu dessen Führer Willehalm durch den König erklärt wurde. Es geht um die Vorherrschaft auf Erden. Aus der Konversion einer Frau wird ein Glaubenskrieg, bei dem es schlicht um die Existenz des Christentums insgesamt geht, denn Terramer will bis nach Rom vordringen und es einnehmen.

Arabel eine heidnische Königin konvertiert für Willehalm aber auch, weil sie an die Überlegenheit des christlichen Gottes glaubt, zum Christentum. Sie ändert ihren Namen und nimmt eine Reduzierung ihrer sozialen Stellung in Kauf. Gyburg wird in vielen verschiedenen Rollen vorgestellt. Nach der Taufe wird sie zur Verteidigerin des Glaubens in einem religiösen Disput. Die damit erreichte Position ist schon außergewöhnlich. Diese exponierte Stellung erfährt eine weitere Steigerung, als Gyburg am Fürstenrat teilnimmt und dort eine Rede hält. Gyburg entwirft eine neue Sicht auf die Heiden und das Verhalten ihnen gegenüber. Den Zenit erreicht Gyburg schließlich als sie am Beginn des IX. Buches sogar als Heilige bezeichnet wird.

Der noch Hass und rücksichtslose Kampfbereitschaft schürende Willehalm der Fürstenversammlung wird augenscheinlich durch die Rede seiner Frau beeinflusst. Was Willehalm seinem Schwiegervater anbietet, kann nur dahingehend gedeutet werden, dass Willehalm, auf diesen Aspekt wurde bereits hingewiesen, eine friedliche Koexistenz anstrebt, ein zukünftiger Krieg wegen des unterschiedlichen Glaubens ausgeschlossen werden soll.

Der zweite angekündigte Aspekt beschäftigt sich mit dem Werk selbst. Es soll um die Überlieferung gehen und Aspekte wie die Illustration von Willehalmhandschriften und die Zyklusbildung.

Zur Überlieferung wurden bereits Andeutungen gemacht, diese sollen nun aufgegriffen und etwas vertieft werden. Die Entstehung des Werkes kann auf das zweite Jahrzehnt des 13. Jahrhunderts festgelegt werden. Am plausibelsten erscheint die Annahme, dass Wolfram seine Arbeit am ,Willehalmʻ wohl gegen Ende des Jahrzehnts beendete, aus welchen Gründen auch immer. Der ,Willehalmʻ weist, inklusive den bisher aufgefundenen Fragmenten, circa 80 Textzeugen auf. Die Zahlenangaben schwanken. Es soll hier nur auf einen besonderen Aspekt hingewiesen werden, der die Zählung gerade beim ,Willehalmʻ im Vergleich zu anderen Werken besonders schwierig macht. Der ,Willehalmʻ wurde oft im Zusammenhang mit einer Vorgeschichte und einer Fortsetzung überliefert. Er wurde zum Mittelteil eines Zyklusses, ein Aspekt auf den noch eingegangen werden soll. Fragen, die nicht geklärt werden können, lauten etwa, kann davon ausgegangen werden, dass Fragmente der Vorgeschichte respektive der Fortsetzung auch als Zeugnis für den ,Willehalmʻ selbst gezählt werden dürfen. Ungeachtet dieser Problematik kann festgehalten werden, dass der ,Willehalmʻ mit Abstand zu den am besten überlieferten Werken der mittelalterlichen Erzählliteratur gehört. Darüber hinaus gibt es Exzerpte etwa in der ,Weltchronikʻ Heinrichs von München, einer Kompilation aus dem Anfang des 14. Jahrhunderts. Eine Beobachtung, die die Aussage untermauert, dass das, was im ,Willehalmʻ geschildert wird, als historischer Bericht aufgefasst wurde.

Auch der Überlieferungszeitraum ist überaus bemerkenswert. Aus dem 13. Jahrhundert stammen 20 Fragmente. Es gibt aber aus dem 13. Jahrhundert nur eine Handschrift von der angenommen werden kann, dass sie den Text Wolframs vollständig wiedergibt. Bei der Handschrift handelt es sich um einen Codex der Stiftsbibliothek St. Gallen, cod. 857, die – unter anderem – auch den ,Parzivalʻ enthält. Der Wortlaut dieser Handschrift dient den Ausgaben als Grundlage, sie gilt als Leithandschrift. Die Überlieferung reicht bis gegen Ende des 15. Jahrhunderts. Im Jahr 1475 entstand eine frühneuhochdeutsche Prosaauflösung, die in drei Handschriften überliefert ist, die alle aus dem Ende des 15. Jahrhunderts stammen. Das bedeutet, die vorgeschlagene Datierung unterstellt, dass das Werk einen Überlieferungszeitraum von mehr als 250 Jahren aufweist. Allerdings wurde der ,Willehalmʻ nie gedruckt, wie dies etwa bei Wolframs ,Parzivalʻ der Fall ist.

Die größte Nachwirkung ging jedoch von Wolframs Prolog des Werkes aus, der losgelöst und unabhängig von diesem eine eigene Textgeschichte begründete. Er wurde vielfach paraphrasiert, ausgeschrieben und nachgeahmt. Er wurde als Paradigma des geistlichen Prologs bezeichnet und bereits um die Mitte des 13. Jahrhunderts ins Lateinische übersetzt. Spätere Dichter haben sich durchaus intensiv mit dem Textstück auseinandergesetzt, auf dieses zurückgegriffen.

Es entstand außerdem, wie schon angedeutet, ein Zyklus, in dessen Mitte Wolframs ,Willehalmʻ steht. Das Werk ist geradezu prädestiniert für eine solche Entwicklung. Ein Grund dafür wurde schon angesprochen: Wolfram hat seine Arbeit nicht vollendet, es fehlt das Ende der Geschichte. Dieses wurde um 1250 dazugedichtet. Der Verfasser war Ulrich von Türheim. Er benutzte zahlreiche Vorlagen. Diese Fortsetzung umfasst mehr als 36000 Verse und ist damit weit mehr als doppelt so umfangreich wie Wolframs Text! Die Lebensgeschichte von Willehalm und Rennewart wird zu Ende erzählt, dabei werden unter anderem Heidenkämpfe dargestellt. Die beiden treten in ein Kloster ein und sterben dort. Zentral ist das Schicksal Rennewarts, das am Ende von Wolframs Text offenbleibt. Diese Fortsetzung zeigt ebenfalls eine weite Verbreitung meist treten die Textzeugen allerdings im Zusammenhang mit dem ,Willehalmʻ auf. Die allgemein übliche Bezeichnung ist ,Rennewartʻ.

Ein weiterer Grund für die Zyklusbildung ist darin zu sehen, dass Wolfram seine Rezipienten im Grunde nicht darüber informiert, wie es zu der Situation kam, die er am Beginn des ,Willehalmʻ schildert. Es bestand also auch am Anfang des Werkes ein gewisser Erklärungsbedarf im Hinblick auf die Konstellation, mit der die Rezipienten konfrontiert wurden. Dem bereitete Ulrich von dem Türlin ein Ende, indem er eine ”Vorgeschichte“ verfasste. Das Werk wird als ,Arabelʻ oder auch einfach als ,Willehalmʻ bezeichnet. Es wird von Willehalms Jugend, seinen ersten Heidenkämpfen und der Gefangenschaft bei Tybalt erzählt. Es wird darüber hinaus von seiner Begegnung mit Arabel, der gemeinsamen, gefährlichen Flucht, von der Taufe Arabels auf den Namen Gyburg und von der Eheschließung von Willehalm und Gyburg berichtet. Dabei scheint der Autor keine Vorlage verwendet zu haben. Seine Erzählung basiert auf Andeutungen in Wolframs ,Willehalmʻ, die er ausbaut. Es entstehen circa 9600 Verse. Ulrich arbeitete wahrscheinlich im Auftrag von Ottokar II. von Böhmen, während dessen Regierungszeit, also zwischen 1253 und 1278.

Der Zyklus umfasst mehr als 60000 Verse. Die Zusammengehörigkeit der drei Teile war schon den mittelalterlichen Rezipienten bewusst, sie wurden als eine groß angelegte Geschichte von Willehalm aufgefasst. In acht der zwölf vollständigen ,Willehalmʻ-Handschriften steht Wolframs Werk zwischen der Vorgeschichte und der Fortsetzung. Bemerkenswert ist auch, dass zu neun ,Willehalmʻ-Fragmenten Fragmente aus der Vorgeschichte und der Fortsetzung aus derselben Handschrift überliefert sind. Daher der Hinweis auf besondere, werkspezifische Probleme bei der Zählung der Textzeugen des ,Willehalmʻ, denn die geschilderte Beobachtung führt zu der aufgeworfenen Frage, wie Fragmente nur der Vorgeschichte bzw. nur der Fortsetzung hinsichtlich der Überlieferung des ,Willehalmʻ Wolframs zu bewerten sind. Es muss grundsätzlich mit der Möglichkeit gerechnet werden, dass diese Fragmente Bestandteile eines ursprünglich vollständigen Zyklusses waren, dementsprechend möglicherweise auch als Textzeugen für den ,Willehalmʻ gewertet werden müssten, wodurch sich die Anzahl der ,Willehalmʻ-Handschriften erhöhen würde. In der Einbindung in den Zyklus fand der ,Willehalmʻ die weiteste Verbreitung.

Inhaltlich muss unbedingt in Erinnerung gerufen werden, dass das bei Wolfram angelegte positive Heidenbild für die beiden anderen Bestandteile des Zyklusses keine Rolle spielt. Die Autoren kehren vielmehr zu der im Rahmen der Kreuzzugsideologie vertretenen absolut negativen Heidendarstellung zurück.

Der ,Willehalmʻ ist das am häufigsten illustrierte Epos des deutschen Hochmittelalters. Da die Herstellung von illustrierten Handschriften einen noch höheren Aufwand bedeutete, als das bei einer nur schriftlichen Textwiedergabe der Fall war, verweist diese Beobachtung zum einen auf die besondere Wertschätzung, die dem Werk entgegengebracht wurde, zum anderen aber – naheliegenderweise – auch auf mögliche Auftraggeber. Als Ursache für die offenkundige Wertschätzung lässt sich anführen, dass der Stoff ins Umfeld des im Mittelalter überaus verehrten Karl des Großen führt. Damit verbunden und wahrscheinlich wichtiger ist die angedeutete Nähe zur Historiographie. Die Feststellung, dass der Inhalt des Werkes als ein historischer Bericht aufgefasst wurde, könnte auch für die erwähnte Beliebtheit des Werkes und die Überlieferungsdauer verantwortlich sein. Eine andere, wenig plausibel erscheinende These, mit der versucht wurde, die Wertschätzung und Illustrationsfülle zu erklären, war der Hinweis darauf, dass die Darstellung des Lebens des Protagonisten als Heiligenvita aufgefasst wurde. Durch die einleitende Beurteilung dürfte verständlich sein, dass nicht weiter auf diesen Forschungsansatz eingegangen wird. Wie auch immer, der Stoff der Dichtung wurde als geschichtliches Geschehen betrachtet, er rückt dadurch in die Nähe von gereimten Chroniken, die häufiger als Epen oder Romane illustriert wurden. Einher mit der Bebilderung geht eine weitergehende buchkünstlerische Ausgestaltung durch reich geschmückte Initialen und anderen Buchdekor wie etwa Zierbänder. Es kann hier nicht ins Detail gegangen werden, festzuhalten ist aber noch, dass die Entstehung von illustrierten Handschriften des Werkes zurückreicht bis um die Mitte des 13. Jahrhunderts.

Einen besonderen Status innerhalb dieses Teils der Überlieferung des ,Willehalmʻ nehmen die München-Nürnberger Fragmente ein, sie bilden einen Extremfall an üppiger Illustration. Sie werden deshalb auch als Große Bilderhandschrift bezeichnet. Auf der Basis der überlieferten Fragmente wurde in der Forschung errechnet, dass die vollständige Handschrift wahrscheinlich circa 500 Seiten, die mit etwa 1300 Bilder ausgestattet waren, umfasste. Diese Fragmente weisen, das dokumentieren im Grunde schon die angeführten Zahlen, auf einen außergewöhnlichen Illustrationsstil hin, der an die bebilderten ,Sachsenspiegelʻ-Handschriften erinnert, bei denen jede Seite in eine schmalere Text- und eine breitere Bildleiste unterteilt ist. Bei den München-Nürnberger Fragmenten ist der Seitenspiegel der elf, teilweise fragmentarisch überlieferten, Blätter ebenso eingeteilt, die Seiten weisen drei oder auch zwei Bilder auf. Der Text wird quasi Vers für Vers visualisiert, ein enorm aufwändiges Verfahren.

Abschließend soll noch kurz auf die angedeutete Frage nach den möglichen Auftraggebern eingegangen werden. Wer konnte derart kostspielige und kostbare Prachthandschriften, die im 13. besonders aber im 14. Jahrhundert die Überlieferung des ,Willehalmʻ geradezu dominieren und in der Hauptsache den gesamten Zyklus wiedergeben, in Auftrag geben? Die anfallenden, exorbitanten Kosten verweisen auf einen exklusiven Kreis von Auftraggebern, wie es etwa der Landgraf Heinrich II. von Hessen war. Die repräsentativen ,Willehalmʻ-Handschriften sind prädestiniert für Fürstenbibliotheken, in hohen Adelskreisen sind mithin die Auftraggeber zu suchen. Dennoch blieb ein hoher Anteil der Bilderhandschriften unvollendet. So blieb auch die von Landgraf Heinrich II. in Auftrag gegebene Handschrift letztlich ein Torso. Das ehrgeizige Projekt kam nicht zur Vollendung. Von den offensichtlich geplanten 479 Miniaturen wurden lediglich 39 tatsächlich vollendet.

Diese wenigen Anmerkungen sollten genügen, um aufzuzeigen, wie vielfältig und weitreichend die Wirkungs- und Überlieferungsgeschichte des ,Willehalmʻ ist.

Primärliteratur

  • Pfaffe Konrad ,Das Rolandsliedʻ, Mittelhochdeutsch / Neuhochdeutsch, herausgegeben, übersetzt und kommentiert von Dieter Kartschoke, durchgesehene und bibliographisch aktualisierte Ausgabe, Stuttgart 2011 (Reclams Universal-Bibliothek; Nr. 2745).
  • Ulrich von dem Türlin ,Arabelʻ. Die ursprüngliche Fassung und ihre Bearbeitung kritisch herausgegeben von Werner Schröder, Stuttgart, Leipzig 1999.
  • Ulrich von Türheim ,Rennewartʻ. Aus der Berliner und Heidelberger Handschrift herausgegeben von Alfred Hübner, Berlin 1938 (DTM 39).
  • Wolfram von Eschenbach ,Parzivalʻ, nach der Ausgabe Karl Lachmanns revidiert und kommentiert von Eberhard Nellmann, übertragen von Dieter Kühn, Deutscher Klassiker Verlag im Taschenbuch, Band 7, Frankfurt a.M. 2006.
  • Wolfram von Eschenbach ,Willehalmʻ, herausgegeben von Joachim Heinzle, Deutscher Klassiker Verlag im Taschenbuch, Band 39, Frankfurt a.M. 1991. (Dieser Ausgabe sind alle Textzitate und die Übersetzungen entnommen.)
  • Wirnt von Grafenberg ,Wigaloisʻ, nach dem Text von J. M. N. Kapteyn, übersetzt, erläutert und mit einem Nachwort versehen von Sabine Seelbach und Ulrich Seelbach, Berlin, New York 2005.

Sekundärliteratur

  • Becker, Peter Jörg: Handschriften und Frühdrucke mittelhochdeutscher Epen. Eneide, Tristrant, Tristan, Erec, Iwein, Parzival, Willehalm, Jüngerer Titurel, Nibelungenlied und ihre Reproduktion und Rezeption im späteren Mittelalter und in der frühen Neuzeit, Wiesbaden 1977.
  • Bumke, Joachim: Wolfram von Eschenbach, 8., völlig neu bearbeitete Auflage, Stuttgart, Weimar 2004.
  • Gerhardt, Christoph: Der ʻWillehalmʼ-Zyklus. Stationen der Überlieferung von Wolframs ʻOriginalʻ bis zur Prosafassung, Stuttgart 2010 (Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur; Beihefte; Beiheft 12).
  • Greenfield, John; Lydia Miklautsch: Der ʻWillehalmʼ Wolframs von Eschenbach. Eine Einführung, Berlin, New York 1998.
  • Heinzle, Joachim (Hg.): Wolfram von Eschenbach. Ein Handbuch – Studienausgabe, Berlin, Boston 2014.
  • Hiestand, Rudolf: „Gott will es! Will Gott es wirklich? Die Kreuzzugsidee in der Kritik ihrer Zeit, Stuttgart 1998.
  • Jaspert, Nikolas: Die Kreuzzüge, 7., bibliographisch aktualisierte Auflage, Darmstadt 2020.
  • Knefelkamp, Ulrich: Das Mittelalter. Geschichte im Überblick, 2., durchgesehene Auflage, Paderborn 2003.
  • Kreft, Annelie: Perspektivenwechsel. Willehalm-Rezeption in historischem Kontext: Ulrichs von Türlin Arabel und Ulrichs von Türheim Rennewart, Heidelberg 2014 (Diss. Göttingen 2013 / Studien zur historischen Poetik; Band 16).
  • Manuwald, Henrike: Medialer Dialog. Die ,Große Bilderhandschriftʻ des Willehalm Wolframs von Eschenbach und ihre Kontexte, Tübingen, Basel 2008 (Bibliotheca Germanica. Handbücher, Texte und Monographien aus dem Gebiete der Germanischen Philologie, 52).
  • Runciman, Steven: Geschichte der Kreuzzüge, deutsch von Peter de Mendelssohn, München 1968 (Neudruck 1975).
  • Saebel, Barbara: Toleranzdenken in mittelhochdeutscher Literatur, Wiesbaden 2003 (Imagines medii aevi 14).
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